Nicht einmal Wikipedia kam da hinterher. Der Pfandleiher, weltbekannter Roman und Film von jenseits des Ozeans ist seit Oktober zum ersten Mal (!) in der deutschen Übersetzung erschienen – ein Buch, das nicht aktueller für unsere Gesellschaften sein könnte.
Sol Nazerman ist der Pfandleiher. Der Überlebende eines Konzentrationslagers ist nach dem Krieg in die Staaten ausgewandert. Dort möchte der ehemalige Professor der Uni Krakau sein restliches Leben in Ruhe und Abgeschiedenheit verbringen. Doch die Familie seiner Schwester zieht nach und verlässt sich auf ihn als den Hauptgeldgeber. Mitte 40 steht Sol also in seiner Pfandleihe, in der er seine Zeit darauf verwendet, den Erinnerungen auszuweichen und für die Mafia der Stadt Geld zu waschen. Je näher der dem 28. August rückt, umso stärker kommen seine grausamen Erinnerung an das KZ ans Licht, denn dieser Tag ist der Todestag seiner eigenen Familie. Das Grauen baut sich vor ihm auf und will zuschlagen, doch auch die Gegenwart bemüht sich um ihn: Ms. Birchfield aus einem benachbarten Jugendzentrum erkennt seine geschundene Seele und will ihm helfen. Ein Angebot, das von Herzen kommt und von einem steinernen Klumpen in Nazermans Geist heftig abgelehnt wird. Irgendwie erreicht sie ihn trotzdem und setzt damit eine psychologische Spirale in Gang, deren Ausgang im Ungewissen liegt … Er kämpft. Gegen sich, die Welt, seine Erinnerungen, sein vergrabenes Leid, seine irritierend angepasste Familie, die hartnäckige Ms. Birchfield, gegen seinen wenig vertrauenswürdigen Ladengehilfen. Das Porträt einer zerrissenen Seele.
Die Kritik
Gerade in dieser Zeit ist es unfassbar wichtig, dieses Buch zu lesen. Es erlaubt einen Blick in eine absolut geschundene Seele, die sich irgendwie an dieses Leben klammert und nicht weiß, wieso. Im KZ gefoltert, kriminalisiert und geschändet, stand der Hauptcharakter nach der Befreiung plötzlich vor einem neuen Leben – nur, dass sich das alte nicht abschütteln ließ.
Was fängt man mit einem Leben an, das eigentlich nur noch den Tod als nahe Endstation kennt? Wie lebt man mit den Erinnerungen aus dem KZ? Wie mit den Bildern deiner ermordeten Kinder, deiner geschändeten Frau? Das Thema ist eigentlich so unfassbar hart und krass, dass der Unterschied zur Aufbereitung im Buch eine Schlucht darstellt. So tiefgreifend der Nazi-Abschnitt seines Lebens war, so normal lebt er weiter und das ist das eigentlich Erstaunliche an dem Buch. Selbst seine größten Ängste werden einfach zur Normalität. Womit willst du so eine Person auch noch schocken können?
Dabei ist das Buch wunderbar zu lesen. Wir alle kennen ja Klassiker, die eine eher komplizierte Wortwahl und Satzstruktur haben – der Pfandleiher liest sich, als wäre er vielleicht erst vor zehn Jahren geschrieben worden. Eine exzellente Lektüre mit harten Themen, die extrem unaufgeregt daher kommt und sich unkompliziert lesen und verstehen lässt. Die Frage ist ja, warum es so lange nicht übersetzt wurde! Es würde sich allein inhaltlich so viel besser in den Deutschunterricht einfügen als so manch andere „klassische“ Lektüre. Der Pfandleiher punktet insofern mit einer sehr persönlichen Sicht, die die Deutschen nicht pro forma ins Abseits stellt und verteufelt, sondern die Menschen insgesamt, die zu dieser Art der Grausamkeit fähig waren – das hat mit der Nationalität der Täter im ersten Moment nichts zu tun.
Der Autor stellt meines Erachtens keine Schuldfrage, sondern eher die nach dem „Wie damit leben?“. Dafür porträtiert er neben seinem Hauptcharakter auch andere Wahlmöglichkeiten, die die Überlebenden dieser Zeit haben. Vom Schmarotzer, der sich hinter der Schuldfrage einen dicken Ranzen anfuttert. Von dem von Schuldgefühlen geplagten, weil er ganz klar überleben wollte und dabei seine eigenen moralischen Grenzen hinwegfegen musste. Von Unbeteiligten, die nun die Überlebenden in ihre Gesellschaft integrieren wollen und müssen – was ein ganz eigener Knochenjob gewesen sein muss, im wahrsten Sinne des Wortes.
Doch bevor ich mich hier ins Nirvana texte, das Fazit: Oy, lesen, und zwar jedermann!
Bettina Riedel (academicworld.net)
Edward Lewis Wallant. Der Pfandleiher.
Berlin Verlag. 22 Euro.