Sansibar: Ein verletzter Mann taucht auf und bringt die kleine Nachbarschaft, in der der Krämer Hassanali mit seiner Schwester Rehana lebt, in große Unruhe. Der Verletzte entpuppt sich als Europäer und damit erst einmal als Risiko für Hassanalis Familie – in Kolonialzeiten wird mit Vorwürfen wie Raub aufseiten der Kolonialmächte sehr schnell um sich geworfen und damit das Leben einfacher Menschen nachhaltig mit einem unbedachten Wort zerstört.
Tatsächlich aber ist der Engländer ein Orientalist, spricht zumindest Arabisch und kommt nach seiner Genesung zu Hassanali, um ihm zu danken. Dabei lernt er indirekt Rehana kennen und am Ende ist es vermutlich ein kleines, unscheinbares Notizbuch, das die beiden ursprünglich Liebenden in Sansibar zusammen führt – und die Basis für eine weitere Liebesgeschichte zweier abtrünniger Seelen im gleichen Viertel in den 50er Jahren legt.
Der Leseeindruck
Die Geschichte, die eigentlich erzählt werden soll, findet wirklich sehr indirekt und wahnsinnig unaufgeregt statt. Der Autor macht allein schon aus der Chronologie der Ereignisse/Familie ein Statement: Alles beginnt bei den Großeltern, die von den Auswirkungen ihrer Handlungen – im Gegensatz zu uns – natürlich nichts wissen können. Wir, in unserem Wissen, sehen also zu, wie die Basis für die Gegenwart/eigentliche Geschichte gelegt wird. Das schürt eine gewisse Erwartungshaltung, die durch den Klappentext stark befeuert wird.
Alle Beteiligten erhalten nacheinander ein eigenes Kapitel, in dem genau ihre sehr pointierte Sicht der Dinge dargelegt wird. Dabei kommt natürlich auch die Haltung der kolonialistischen Mächte zur Sprache und auch wenn es in dem Fall um einen maximal arroganten und rassistischen Engländer geht, muss sich niemand der Illusion hingeben, dass der nicht als Beispiel für alle anderen Kolonialmächte intendiert wurde. Er wird entsprechend vorgeführt, ohne jedes Erbarmen: Es gibt keine dezenten Andeutungen, die die Leser:innen entschlüsseln müssen – der Autor spricht ohne Umschweife und sehr direkt. Die Charaktere werden sehr genau beschrieben, sodass man sie sich gut vorstellen kann. Was leider ein wenig ziellos bleibt, denn nachdem man sich an sie gewöhnt hat, verschwinden sie direkt wieder aus dem Fokus.
Entsprechend der erwähnten starren Chronologie und dem wechselnden Fokus auf alle einzelnen Charaktere dauert es übrigens bis zur Mitte des Buchs, bis die eigentlichen Hauptpersonen auftauchen: Man sollte sich also beim Klappentext nicht direkt auf ein Feuerwerk der Liebe vorbereiten. Das indes wird an einer Stelle sogar richtiggehend übersprungen: Der Autor verfasst ein Zwischenkapitel in der ich-Perspektive, das denkbar schwammig bleibt.
Was davon wiederum bleibt? Eine eigenwillige Geschichte, die nur in kleinen Teilen zur Unterhaltung geschrieben wurde und in großen einfach um des Erzählens willen. Wer möchte, kann eintauchen in verschiedenste Gedankenwelten und lernt die Charaktere kennen, als wären sie die eigenen Nachbarn. Klassische Strukturen, wie etwa groß angelegte Spannungsbögen, finden sich eher nicht, dafür ist auch die Sprache zu neutral, zu beobachtend.
Die Abtrünnigen. Abdulrazak Gurnah.
26 Euro. Penguin.