Thomas Hazard, genannt Tom, ist um die 40 Jahre alt. Das verkauft er zumindest den Menschen um sich herum, die er frei von jeglichem Charme nur „die Alltagsfliegen“ nennt: Denn Tom altert nicht wie wir. In Wahrheit hat er bereits 439 Jahre auf dem Buckel und steckt, wenig überraschend, in einer ziemlichen Sinnkrise. Wofür lebt man, wenn nicht für die nächste Etappe à la Schule, Studium/Ausbildung, Familiengründung et cetera? Das sind die typischen Stadien eines von der Gesellschaft genormten Lebens, nur, dass Tom nicht zur Gesellschaft gehört. Immer mittendrin, aber niemals dabei.
Das macht ihm natürlich stark zu schaffen und beschert ihm eine ordentliche Portion Hirnfasching / extrem nachdenkliche Momente. Natürlich spricht aus einem unglücklichen Charakter eine gewisse Schwermütigkeit, aber der Autor schafft es, einigermaßen drumherum zu navigieren. Für mich sind daraus sehr interessante Gedankenanstöße entstanden, die der eigentlichen Geschichte sicherlich auch mal eine Länge verpassen. Dennoch liest sich das Buch vergleichsweise locker, denn die Kapitel sind kurz gehalten und so konstruiert, dass sie die Leser nicht überfordern dürften. Zeitgleich sorgen die kurzen Kapitel für inhaltliche Abwechslung, denn sie führen uns an verschiedene Orte, in unterschiedliche Zeiten und zu interessanten Menschen.
Soziale Beziehungen sind ein enormer Risikofaktor für Tom, denn natürlich merken seine Mitmenschen, wenn er innerhalb einiger Jahre nicht im Geringsten altert. Außerdem lebt er nicht mehr nur im Zeitalter der Fotografie, sondern der Digitalisierung. Umso einfacher ist es für ein Institut in Berlin, Menschen wie Tom ausfindig zu machen und im Namen der Wissenschaft „zu nutzen“. Er ist also permanent gefangen zwischen der Angst, sich zu verlieben, der Angst, entdeckt zu werden und der Panik, als Laborobjekt zu enden. Diese Ängste werden sehr gewieft angeheizt: Schutz bietet ihm nämlich „die Gesellschaft“ rund um einen Mann namens Hendrich. Auch er altert extrem langsam und versammelt Gleichgesinnte um sich. Im Gegenzug zu Geld, Unterlagen und allen möglichen Gefallen stellt er Regeln auf: beispielsweise, dass „seine Leute“ alle 8 Jahre umziehen müssen. Und Tom? Tom will da raus und tritt eine Stelle als Geschichtslehrer an. Dort lernt er seine Kollegin Camille kennen, doch die zart aufblühende Romanze beschert ihm Flashbacks an seine erste große Liebe, die alles in Mitleidenschaft zu ziehen droht …
Eine richtige Romanze entwickelt sich aus dieser Geschichte aber nicht. Will sagen: Er ist sehr damit beschäftigt, seine eigene Vergangenheit aufzuarbeiten und sich nicht im bereits Erlebten zu verlieren. Camille ist also als Auslöser und als Lösung zu verstehen, doch roa Herzcghen spürt man im Buch nicht aufploppen. Wer sich also vor allem eine direkt entstehende Liebesgeschichte erwartet, wird feststellen, dass diese zwar existiert, aber sehr wenig erzählerischen Raum einnimmt. Das macht das Buch andererseits wieder sehr gut lesbar für alle, die ein wenig Romance mögen, aber eben nicht zu Groschenromanen greifen möchten.
Eine sehr intelligente und charmant erzählte Betrachtung des Lebens über mehrere Jahrhunderte mit einigen klugen und unterhaltsamen Sprüchen. Matt Haig widmet sich ausführlich dem Chaos im eigenen Kopf, das wohl jeder von uns manchmal schiebt und hält es am Ende quasi mit Tolstoi (auch wenn das nicht explizit erwähnt wird und einen größeren Spoiler möchte man doch nicht liefern).
Matt Haig. Wie man die Zeit anhält.
dtv. 10,95 Euro.