Neverness ist eine Insel, die gefühlt von Nebel umwabert ist und wie Avalon abgeschottet von der restlichen Welt vor sich hin in einem Stadium vor dem technologischen Fortschritt existiert. Die dortigen Einwohner sind verschroben und durch Einsamkeit & tradiertes Verhalten geprägt. Die Männer werden von Beruf her Fischer, die Frauen zu Ehefrauen und letztere sterben gefühlt gerne etwas zu früh.
Eine harte Lebensrealität, die durch mythische, magische und sagenumwobene Elemente ergänzt wird. Beispielsweise Wesen wie Wasserbullen, die ab und an an Land kommen, um sich eine Jungfrau einzufangen. Ein Junge, der mit einem Flügel statt eines Arms geboren wird – niemand hinterfragt die Gründe, er ist einfach Teil dieser kleinen, seltsamen Gemeinschaft. Oder auch Erken – das Fischersweib scheint aus einer anderen Welt zu stammen und hat überdies noch eine Art Feenkind geboren …
Der Leseeindruck
Das Buch selbst ist keine geschlossene Geschichte, sondern wird mit jedem Kapitel / Erzählung aus der Sicht eines anderen Inseleinwohners geschildert. Interessant ist, dass es sich sowohl um alleinstehende Geschichten handelt als auch vorherige Charaktere immer wieder eingeflochten werden. Das Ergebnis ist ein Rundumblick über die Inselschicksale, die auch noch über einen längeren Zeitraum das Ende einiger Charaktere preisgeben. Stilmittel, wie dass die letzte Geschichte die erste einbezieht, illustrieren, wie stark der kleine Insel-Kosmos durchdacht und konstruiert wurde.
Als klassische Märchen würde ich diese Geschichten jedoch nicht bezeichnen. Gerade im ersten Drittel scheint es vor allem um das sexuelle Erwachen der aktuellen Teenager-Generation zu gehen, was in dieser Häufung schließlich etwas eintönig wird und meines Erachtens thematisch nicht zur Kategorie „Märchen“ gehört. Die Erzählungen werden maßgeblich durch die patriarchalische Parallelgesellschaft geformt, in der mit Sicherheit auch über die Jahrzehnte Inzest eine große Rolle gespielt hat. Das jedoch taucht nicht offiziell auf 😉 Patriarchalisch, eigenbrötlerisch, ein wenig archaisch – es geht hauptsächlich ums Überleben und nur ganz selten um das große Glück im Leben.
Insgesamt eines der eher wunderlichen Bücher. „Wunderlich“ ist dabei auf gar keinen Fall negativ zu verstehen. Die Kreativität und Ideenvielfalt dieser Erzählungen ist de facto nicht unüblich, zusammen mit dem Erzählstil aber aktuell relativ ungewöhnlich und damit super erfrischend für Vielleser. Das macht das Buch zu etwas Besonderem, gerade in Kombination mit dem besonderen Inselflair, den die Autorin sehr geschickt zu wecken weiß. Ihre Ortsbeschreibungen sind nicht umfassend, aber simpel, knackig und malerisch genug, um die salzige Luft zu riechen, die Brandung zu hören und die Fischerboote an den Anlegestellen auf den Wellen schaukeln zu sehen. Man kann sich richtig vorstellen, dass Neverness direkt an der Nordseeküste liegt.
Kurzweilige und kleinteilige Unterhaltung – absolut perfekt für alle, die das Meer und seine Geschichten und Mythen lieben.
Zoe Gilbert. Nebelinsel.
Wunderraum Verlag. 20,00 Euro.