Auf Sardinien leben drei adelige Schwestern in physikalischer Armut, aber natürlich gilt: noblesse oblige und schon finden wir mit ihnen drei durch soziale Konstrukte in ihrem Verhalten festgezurrte Damen. Sie wirken wie alte Spinster und leben recht eintönig vor sich hin, bis sie die große Neuigkeit erreicht: Der Sohn ihrer in Ungnade gefallenen weil geflüchteten Schwester will in den Schoß der Familie zurückkehren. Doch Giancinto ist ein verweichlichtes, vom Unglück geschlagenes Kerlchen, das einfach die nächste Station seines Lebens sucht und nicht das Leben mit der Familie oder Versöhnung. Das Drama nimmt seinen Lauf und es ist an allen Beteiligten, ausgetretene Pfade zu verlassen, um den Weg durch dieses Schlamassel zu finden.
Der erste Eindruck
Wie absolut faszinierend auch der Gedanke, dass dieses Buch bereits 1913 erschienen ist und damit vor über hundert Jahren. Natürlich hilft da die neue Sammlung an Kommentaren, um das Textverständnis zu erhöhen, sehr. Bei zeitlosen Klassikern wie diesem macht es gar nichts aus, sich die Zeit beim Lesen zu nehmen, um ans Ende zu den Kommentaren zu blättern. Dennoch scheint es inhaltlich gar nicht so lange her zu sein, als unbedarfte:r Leser:in könnte man die Erzählung auch in die 50er oder 60er einer entlegenen italienischen Region datieren.
Die Handlung spielt auf Sardinien, um es genau zu sagen und einzugrenzen – denn die Sarden sind schon ein besonderes Völkchen. Die Griechen benannten diese Insel nach dem Sandalen-Abdruck, den die Insel optisch abgibt (woher auch immer die das wussten, Ikarus vielleicht?). Etwas, was spezieller war oder etwas Besonderes, gab es anscheinend nicht 😉 Während es in der Welt vorangeht, Kultur sich entfaltet und die Erdkugel sich dreht, bleibt in der Hitze Sardiniens aus Sicht von Giancinto ebendiese Welt stehen. Eine wirklich blasse Ausrede für seine Charakterarmut, die seine Tanten in eine noch prekärere Lage stürzt – denn wenn man ihn als den männlichen Erben der Familie behandelt und er aber nichts taugt, geht man mit ihm unter.
Wer gegen wen?
Der Knecht Efix darf den Jungen zwar verscheuchen, wird aber von einer der Schwestern für die Misere verantwortlich gemacht. Er wird nicht bezahlt und kann bis kurz vorm bitteren Ende nur alles falsch machen, wird psychisch in die Abhängigkeit manipuliert und sogar zum Mörder für die Frauen. Dafür bekommt er einen warmen Platz am Herd, wenn der denn mal frei ist. Vielleicht steht diese Schwester für den Versuch, sich unabhängig von solchen patriarchalischen Strukturen zu machen. Dass just diese dann aber einen Weg der Abhängigkeit wählt (mehr darf nicht gespoilert werden, trotz Klassiker-Status), ist ein Aufgeben oder oder oder … Es ließe sich mannigfaltig interpretieren. Geht es um den Konflikt der adeligen, aber verarmten Oberschicht mit der Unterschicht, die nur arm bleibt, weil sie sich als überloyal erweist und die Adeligen als nicht vertrauenswürdig? Ist es eine Kritik an den Knechten, die sich knechten lassen und aus lauter Gefühlsduselei das unsaubere Geschäft mit ihrer Lebens- und Arbeitszeit nicht verstehen? Final ist es eine Erzählung, deren Perspektive zwischen Volk und Adel wechselt, wobei die einzelnen Repräsentanten der gesellschaftlichen Schichten sehr pointiert dargestellt werden.
Das Fazit
Bevor dies aber nun in eine Deutsch-Abi-Analyse übergeht: Lest das Buch. Der Preis ist unter anderem durch die hochwertige Herstellung, die feste Bindung in dem kleinen Format und der besonderen Papierauswahl mehr als gerechtfertigt!
Grazia Deledda. Schilf im Wind.
Manesse. 25 Euro.