Ihr Name ist „Schwester“, denn so wird die junge Frau in ihrer neuen Gemeinschaft in den Bergen genannt. Am Anfang dieses Buchs verlässt sie die Stadt mit ihren Mauern, Fesseln und einem Ehemann, der sich der gestürzten Zivilgesellschaft ergeben hat. Diese Gesellschaft, die vor sich hinsiecht, in der es kaum lebenswerte Umstände gibt und die unterdrückt, was es an bunten Gedanken im Kopf zu unterdrücken geben könnte. Ein Leben, das auf wundem Zahnfleisch daher kommt und deswegen gut und gerne abgehakt werden kann.
Raus aus dem Mief
Doch „Schwester“ will das nicht, sie will sich zumindest von dem politischen Druck befreien und frei durchatmen. In den kargen Bergen des Nordens soll eine Gemeinschaft von Frauen leben, die unter dem Radar der Behörden existiert. In der kargen Gegend kommen die Frauen auf das „ursprüngliche“ Leben zurück – das einem Überlebenskampf gleicht, ohne Technik auskommt, starken Willen verlangt und nicht sanft mit Menschen umgeht. Kein Wunder, dass die Frauen immer mehr von einer echten Revolution träumen …
Der Leseeindruck: Alte Fehler korrigiert
Im Gegensatz zu Atwood schafft Hall es, eine gewisse Leichtigkeit in ihre Erzählweise zu bringen. Religion taucht so gut wie gar nicht auf, die Unterdrückung der Frau erfolgt zwar auf sexueller Basis, aber macht daraus nicht gleich einen Opfer-Sex-Kult der Fortpflanzung. Der Tobak bleibt also unvermindert gewichtig, wert- und gehaltvoll, doch der Einsteig und das Einfühlen in die Hauptperson ist unendlich viel leichter. Im Gegensatz zu Yuknavitch schafft Hall es außerdem, der Sexualität eine hervorgehobene Rolle zuzuweisen, ohne damit zu nerven – so erhält dieser Aspekt auch überhaupt eine Bedeutung, die man als Leserschaft wahrnimmt und nicht augenrollend darüber hinweg liest. Sie macht auch klipp und klar: Feminismus bedeutet nicht, alles andere schlecht zu machen oder genauso zu unterdrücken (versuchen).
Selbstfindungsgeschichte
Wie werden Rebellen geboren? Welche Gedanken und Ereignisse gehen dem Ereignis, dieser tiefgreifenden Entscheidung voraus? Das ist der Punkt, an dem Hall ansetzt. Nicht an epischen Schlachten, heroischen Taten, nicht an den einschneidenden Ereignissen – sondern direkt an dem Tiefpunkt, der auch nicht als Geburtsstunde einer Heldin wird, werden kann. Gedanklich ist „Schwester“ in einer zähen Masse gefangen. Es geht darum, innerhalb dieser sehr restriktiven Welt und Umgebung einen Weg zu finden, der zu sich selbst führt, unübliche Gedanken zuzulassen. Wer das schafft, erlebt die Geburtsstunde des Individualismus. Wer Atwood mag, wird dieses Buch vermutlich lieben und wer Atwood nicht mag, wird lesen, was Atwood mit einem Funken Empathie hätte werden können.
Sarah Hall. Die Töchter des Nordens.
20 Euro. Penguin Verlag.