Eigentlich hatte Andreas seinem restlichen Leben keine große Bedeutung beigemessen: Den Ruhestand in Frankreich verbringen, wo ihn niemand stören würde. Er ist Partner- und kinderlos, seine Eltern starben früh, seine Schwester Nina kürzlich und weitere Verwandtschaft gibt es seines Wissens nach nicht. Trotzdem fährt eines Morgens ein Taxi vor und eine junge Frau steht vor ihm. Ob er den Brief des Anwalts seiner Schwester nicht gelesen hätte?, fragt sie ihn und stellt sich ohne Umschweife vor. Sie heiße Malin und wäre seine Nichte. Nina hätte zwar von ihr gewusst, aber sie in der Familie gelassen, in der sie aufwuchs. Malin befindet sich im Gegensatz zu Andreas mitten im Leben, allerdings in einer Krise: frisch getrennt, kein Job mehr, auf Orientierungssuche. Worauf sie allerdings keine Lust hat, ist die Begegnung mit Ninas Geist, also ihren Hinterlassenschaften und den Geschichten, die Andreas ihr erzählen könnte. Trotzdem bleibt sie – und mit ihr könnte ein neues Kapitel in Andreas Leben beginnen, so er das denn möchte.
Die Kritik
Eine vergleichsweise kurze Erzählung, in der dafür jeder Satz umso präziser formuliert ist. Gefühlt ist Nina der eine Hauptcharakter, der wegen ihres Todes immer nur durch die beiden anderen Personen in Erscheinung tritt, seien es Erinnerungen, Zusammenhänge wie das Haus in Frankreich oder ganz offenbar ihre letzten Handlungen gegenüber Malin. Daher baut man eher eine persönliche Bindung zu Nina als zu Andreas auf, der als ehemaliger Eisenbahner mehr zu der verschrobenen, emotional nicht greifbaren Sorte Mensch gehört. Er nimmt Malin anfangs ohne natürliche Abwehrreaktion an, was den Leser zunächst überrascht. Doch bald stellt man fest – er will einfach, dass es stimmt, dass Nina eine Tochter hatte, die jetzt in sein Leben getreten ist (kein Spoiler, das merkt man doch recht früh).
Das Leben der beiden fügt sich ohne Probleme ineinander – worüber erzählt der Autor also? Über das Leben von Andreas und Nina. Wie es dazu kommen konnte, dass seine Schwester ein Kind hatte und es ihm verheimlichen konnte. Wie Malins Leben in der letzten Zeit verlaufen ist und warum sie sich ganz bewusst in einen neuen Lebensabschnitt begeben möchte. Wieso es auch mal okay ist, eine unpopuläre Entscheidung hinsichtlich der eigenen Familie zu fällen, gleich welche Konsequenzen die Zukunft kaum erwarten können.
Trotz allem, was das Leben ihnen serviert hat, können Malin und Andreas gemeinsam schweigen, für sich bleiben. In der Realität ist es ja oft so, dass man Menschen trifft, die ständig unterwegs sein müssen, etwas Neues erleben müssen, fast schon zwanghaft – weil sie nicht mit sich alleine sein können. Darauf, so die Vermutung, bezieht sich der Titel des Buchs. Jeder Mensch hat in seinem Inneren sehr viel zu entdecken und bei Andreas scheint es, als hätte er das bereits getan – und strahlt damit eine Ruhe aus, die Malin dringend benötigt.
Eine interessante Erzählung, die Familienleben aus einer sehr realistischen Perspektive erlebbar macht, ohne auch nur in die Nähe einer dramatischen Soap zu kommen. Nur ein Manko – wie viel ist Literatur wert? Mit 20 Euro ist das 173-seitige Werk für manchen Student / Leser nicht ganz erschwinglich.
Bettina Riedel (academicworld.net)
Thommie Bayer. Das innere Ausland.
Piper. 20,00 Euro.