Vincent hat eine erbliche, nicht heilbare Krankheit und wird blind. So direkt und ungeschoren erkärt es ihm seine Ärztin, zumindest kommt es ihm so vor. Vincent, das ist ein 34-jähriger, fitter Tennislehrer, sozial aktiv, in einer glücklichen Beziehung. Die Diagnose erfüllt sich innerhalb weniger Wochen und sein Leben krempelt sich nicht einfach um, sondern ihm wird der komplette Boden unter den Füßen weggerissen.
Seine Freundin Émilie glaubt ihm nicht und denkt, er will nur billig Schluss machen. Seine Eltern denken, sie müssten ihn bemuttern und er wäre komplett hilflos. Er selbst denkt das anfangs auch und hat keinerlei Ahnung, wie es weitergehen soll. OB es weitergehen soll. Schließlich rennt er von allen Leuten weg und nistet sich in dem völlig verlotterten Haus nieder, das einst seinem Großvater gehört hat.
Der Leseeindruck
Eine von Grund auf gelungene Geschichte. Es geht hier nicht um Mitleid heischen, um Selbstbeweihräucherung oder gaffen. Karine Lambert hat ein ganz einzigartiges Wahrnehmungsverhältnis geschaffen, das die Leserschaft berührt und in ihre Welt zieht – fernab einer klischeehaften Romanze.
Die Figuren sind absolut realistisch, nicht überzeichnet und doch emotional aktiv. Man kann sich sehr gut mit ihnen verbunden fühlen, sie treffen keine Entscheidung, die die Autorin ihnen allein wegen der Handlung aufzwingen könnte. Es bleibt alles sehr plastisch und vorstellbar.
Das alte Haus als Symbolbild für den Zustand seiner Seele ist perfekt gelungen: Es gehört zu seinen Kindheitserinnerungen, ist aber gerade richtig kaputt. Es liegt an ihm, es mit Leben zu füllen und es liegt an ihm, Freunde und neue Menschen einzuladen. Mal geht das gut, an einem anderen Tag tut der Protagonist sich wieder etwas schwerer. Hilfe annehmen und gleichzeitig die eigenen Fähigkeiten zu erkennen sowie auszuleben, ist ein weiterer Schritt auf seinem Weg der … Selbsterkenntnis? Selbsterhaltung? Genesung? Allzuviel soll trotz des optimistischen Klappentexts doch nicht verraten werden. Kleiner Tipp für potenzielle Leser: Es geht bei diesem Buch nicht darum, wie man am besten blind einen Garten bewirtschaftet …
Ohne mit den nächsten Zeilen whataboutism betreiben zu wollen: Das Buch kommt für den Sommer 2020 absolut perfekt gelegen auf den deutschen Buchmarkt. Denn zwecks C19 ist die gesamte Welt auf den Kopf gestellt worden: Kündigungen, kaum Neueinstellungen und Kurzarbeit stellen viele Menschen vor finanzielle Herausforderungen. Dazu soziale Distanz, räumliche Einschränkung – vielen geht es emotional nicht gut, ihr Leben ist stark verändert. Das Buch macht insofern Mut, denn natürlich durchläuft Vincent alle Stufen der Veränderung, angefangen mit Verweigerung, Zorn und Depression. Dabei bleibt die Autorin immer höflich distanziert, ernennt sich niemals zur moralischen Hoheit, sondern lässt Vincent quasi einfach mal laufen und nicht scheitern.
Super einfühlsam, ehrlich und realitätsnah. Mein Buch für den Sommer 2020.
Bettina Riedel (academicworld.net)
Karine Lambert. Der unsichtbare Garten.
Diana Verlag. 18 Euro.