Triggerwarnung: Mord, sexuelle Gewalt, Gewalt gegenüber Kindern
Anmerkung vorab: Die Bewertung dieses Buchs liest sich recht nüchtern, aber entweder haltet durch (ich bin einfach keine Glitzer-Bewerterin) oder springt gleich zum Fazit! 😉
Areto arbeitet im Palast von Troja, als der Prinz eine entführte Amazone von seinem Jagdausflug mit nach Hause bringt. Aretos Pflicht ist es, sich um deren Wohlbefinden zu kümmern. Doch es kommt, wie es kommen muss: Der restliche Stamm überfällt die Stadt und möchte die entführte Schwester zurückholen, ein absoluter Wendepunkt im Leben von Areto! Sie erschlägt ihren psychisch gewalttätigen Ehemann und schließt sich den vermeintlich völlig wilden Frauen an, denn alles scheint besser, als weiterhin unterjocht zu werden. Im Amazonenland angekommen muss sie jedoch von weit unten starten, denn eine Kriegerin ist sie nicht. Umso überraschender kommt es, dass ausgerechnet die Göttin Artemis sie dazu auserwählt, die Amazonen in die Zukunft zu führen – doch welche?
Der erste Eindruck
Ein Buch, zu dem wirklich viel zu sagen ist. Was auf den ersten Blick vielleicht ein wenig verwundert und gleichzeitig gar nicht: Denn die eigentliche Handlung ist relativ simpel. Eine Frau flieht aus der griechischer Gesellschaft, schließt sich Amazonen an und wird als Auserwählte von Artemis in den Krieg rund um Troja hineingezogen: Das Amazonenvolk reitet gen Troja. Sie könnte die Amazonen in die Vernichtung führen oder eben nicht – das darf als Auflösung natürlich nicht verraten werden. Soweit klingt die Handlung relativ übersichtlich und es mag verwundern, dass man hierüber 500 Seiten schreiben kann – deren Schrift fast bis an den Rand geht und noch dazu recht klein ist. Dennoch sei direkt verraten, dass das Buch wirklich intensiv ist und eines, an dem man eine Weile zehrt – es ist nicht zum mal eben runterlesen gedacht oder geeignet. Denn: Zeitgleich zur eigentlichen Geschichte rund um die Amazonen ist das Buch eine wahre Content-Bombe, anders lässt es sich fast nicht sagen.
Die Handlung & die Charaktere
Die erste wesentliche Handlung der Hauptperson ist Güte, Mitleid und Kampfbereitschaft im Angesicht der Not – entsprechend schnell ist man auf ihrer Seite und folgt gerne ihrer Reise zu den Amazonen. Dass dort nicht alles Gold ist, was glänzt, merken wir genauso schnell wie Areto. Sie entwickelt sich – entgegen aller Klischees – nicht zur kampferprobten Superheldin, was der Geschichte wirklich gut tut. Denn Helden gibt es darin genug, nur dass diese am Ende eher auf den Seiten der Griechen stehen. Als sie von Artemis auserwählt wird, wird es richtig spannend: Wieso, welchen Plan verfolgt Artemis damit, wer zieht im Hintergrund Fäden und welche Hindernisse werden sich Areto und den Amazonen noch in den Weg stellen? Der Einstieg ist damit prima geglückt.
Kommen wir zum harten Tobak:
***Die Triggerwarnung war ernst gemeint ***
Es geht beispielsweise um Diversität in allen Aspekten: Die Situation beginnt mit einer Frau, deren sexuelle Orientierung zumindest schon mal nicht hetero ist und die dafür von der Gesellschaft so dermaßen gemaßregelt wird, dass der eigene Vater sich bereiterklärt, sie zu vergewaltigen – um sie wieder „normal“ zu machen. Hartes Brett und entsprechend sind die Triggerwarnungen am Anfang des Buchs wirklich, wirklich ernst zu nehmen. In der Gesellschaft der Amazonen tauchen Nebencharaktere auf, die mit nicht-binären Pronomen angesprochen werden möchten: „sier“ und „ihrm“. Erstens ist das noch selten und wirklich cool in Sachen grundsätzliche Repräsentation. Zweitens ist diese Person nicht mit negativer Handlung belastet, wie das leider manchmal oft der Fall ist und damit wird diese Repräsentation nicht mit Stigmatisierung verwässert = Kompliment, Fettnapf bewusst umgangen. Dass die Pronomen ganz normal in den Satzbau passen und die Handlung dadurch nicht verkompliziert wird, zeigt, dass niemand vor gendern und Diversität in Büchern (ehrlicherweise vorgeschobene) „Angst“ haben muss – nur, falls dir das auch mal als Argument begegnet. In diesem Buch findest du jede Menge praktische Umsetzungen, die das Gegenteil beweisen.
Die Befreiung vom göttlich-Althergebrachten
Zeitgleich übt die Autorin auch Kritik am Matriarchat – es geht also wirklich um Diversität und nicht die reine Verdammung des Patriarchats. Bei den Amazonen beschreibt sie die Tradition, dass die Königinnen ihre Söhne direkt nach der Geburt töten müssten. Diese Tradition beruht auf der Einschätzung des Geschlechts des Babys anhand von Genitalien und einer strikt binöären Denkweise – und eine Gesellschaft, die das Wesen von Vielseligen als valide anerkennt, widerspricht dieser Tradition nicht? Es sind Traditionen, die von Göttern vorgegeben werden: Ares, der als einziger dafür sorgt, dass die Königinnen nur Mädchen bekommen (weil nur er der Vater sein darf, um die Macht seines Blutes weiterzugeben, viel patriarchalischer kann es ja kaum sein) und Artemis, die Frauen fast härter verurteilt als die von ihr verhassten Männer. Nicht nur denkt sie also auch strikt binär, es geht ihr offenbar auch mehr um ihr Ego als tatsächliche Geschlechtsunterschiede und damit Charaktereigenschaften. Es ist also Aufgabe der Amazonen, all diese Fehler zu erkennen und sich davon ausgehend zu befreien. Das erfordert einen Kampf mit sich selbst, mit Fraktionen innerhalb des Amazonenvolks und nicht zuletzt den Göttern, die in der alten griechischen Welt ja doch eher stur und menschlich-emotional sind.
Klitzekleines Manko
So umfassend die Diversität in dieser Geschichte bedacht und umgesetzt wurde: In Sachen mentaler Gesundheit könnte man eventuell auch noch etwas vorsichtiger vorgehen – das aber aus der Sicht einer nicht-Betroffenen angemerkt, eine Lösung dafür habe ich auch nicht parat. Ein gut umgesetztes Beispiel ist die Depression, die in Form eines Schattens einer Figur sehr gut integriert wurde. Etwas kritischer könnte man es sehen, als es um Dionysus und seinen Hof geht: Hier fallen Begriffe wie Wahn und Irre. Es mag spitzfindig sein und ist keinster Weise vorwurfsvoll oder böse gemeint, aber es wäre wirklich sensationell, wenn psychische Erkrankungen eventuell ein kleines bisschen weniger stigmatisierend eingebracht werden könnten.
Historische Fakten in Fantasybüchern
Wer dem Buch zu wenig historische Akkuratesse vorwerfen möchte, möchte sich bitte vor Augen führen, dass es auch Fantasy-Elemente enthält: Götter existieren, nehmen Farbe und Form auf der Erde und sowie interagieren mit den Menschen. In Fantasybüchern dürfen leuchtende Pferde und noch viel mehr auftauchen und damit auch historische Elemente ein wenig im eigenen Sinne interpretiert werden, ohne dass das Buch schlecht ist. Ist ja eine fiktive Erzählung und kein Sachbuch. Sowieso wird es spätestens in dem Moment auf wissenschaftlicher Ebene höchstwahrscheinlich inakkurat, in dem man einer real existiert habenden Person eigene Worte in den Mund legt und das noch in einer modernen Sprachfassung (/Ironie aus).
Das Fazit
Man kann es auch kurz sagen: Absolute Leseempfehlung und im Übrigen offenbar geeignet, im Rahmen von Hausarbeiten selbst ellenlange Texte darüber zu verfassen 😉 Ein Buch, das meiner Meinung nach nicht einfach nebenbei gelesen werden sollte, sondern ein echtes Brett ist und als solches eine ordentliche Menge Aufmerksamkeit verdient hat.
Bettina Riedel (academicworld.net)
Die Götter müssen sterben. Nora Bendkzo.
Knaur. 14,99 Euro.