Das Land der Rus, 15. Jahrhundert: Wasja ist die Enkelin einer magisch begabten Frau mit verwandschaftlichen Beziehungen bis in den Adel Moskaus. Davon merkt das Mädchen in ihren ersten Lebensjahren aber nichts, denn da ihre Mutter im Kindbett starb, streift sie in ihrer Jugend ungestört durch die Wildnis des russischen Nordens und wächst für ein Mädchen vergleichsweise frei auf. Ihre Geschwister mögen sie sehr, halten sie aber für reichlich seltsam.
Ein wenig zurecht, denn die kleine Wasotschka hat die magische Begabung ihrer (Groß-)Mutter geerbt. Das fällt auch einer dunklen Macht auf, die zunächst sehr bedrohlich wirkt und doch das kleinere Übel zu sein scheint: Väterchen Frost, der Winterdämon, zeigt starkes Interesse an Wasja, während sich in der Dunkelheit des Waldes eine alte, bösartige Macht erhebt, von der niemand mehr etwas weiß …
Der Leseeindruck
Die Liebe zur russischen Kultur spürt man als Leserschaft in jeder Zeile dieses Buchs – und auch, dass die Autorin selbst einige Zeit dort gelebt hat. Herausgekommen ist damit ein Buch, das sich ein bisschen wie die alten Märchen liest, aber trotzdem in einer modernen Facon verfasst wurde und damit deutlich eingängiger ist. Die fragliche Zeit ist historisch gesehen relativ lückenhaft dokumentiert, daher kann die Autorin auch ihre Fantasie ein wenig den Ton angeben lassen (wenngleich sie sich am Ende dafür sogar entschuldigt ;)) – aber es geht hier ja auch um eine Art Märchen, keinen akuraten Historienroman.
Für die Handlung und ihren Aufbau lässt sich die Autorin sehr viel Zeit – daran könnten sich vermutlich die Geister der Leserschaft scheiden. Zum einen ist dieses langsame Fortschreiten der Handlung gut, denn es erlaubt den Charakteren, sich ohne Hast und mit Bedacht fortzuentwickeln – ein wesentliches Element, das ich in dieser „russischen“ Geschichte erwarte. Durch den Klappentext wird die Leserschaft aber durchaus wegen eines sehr bestimmten Szenarios angefixt, das durch den langsamen Aufbau erst so richtig ab der zweiten Buchhälfte Fahrt aufnimmt.
Außerdem widmet sie sich einer sehr spannenden Situation: Eine alte, vielfältige Religion wird von einer anderen, komplett monotheistischen verdrängt. Das könnte man mit etwas Interpretationsgeschick auch im modernen Sinne betrachten – der Abkehr von einer ganzheitlichen Betrachtungsweise des Lebens zu einem Gott, der nicht so ganz in Verbindung mit der Natur steht und so die natürliche Gesundheit des Ökosystems in Bredouille bringt. Wobei das nur Gedankenspirenzchen sind, die ohne Spoiler nicht vollständig ausgeführt werden können. Sie zeigen jedoch, dass die Geschichte sehr gut durchdacht ist. Nicht alles ist, wie es erscheint, die Definition von „gut“ und „böse“ ist sowieso relativ – und damit wird auch die Fantasie der Leserschaft angeregt.
Ein wahnsinnig tolles Winterbuch, das etwas bunte Abwechslung in den Fantasy-Kosmos bringt.
Katherine Arden. Der Bär und die Nachtigall.
Heyne. 16,99 Euro.