Obacht – dem Buch entsprechend wird das Thema Flucht besprochen. Wir haben uns um Ausgewogenheit bemüht, um sprachliche Fettnäpfchen und negative Interpretationen zu vermeiden. Sollte dir dennoch etwas auffallen, schreibe bitte an bettina.riedel@academicworld.net, damit wir diese Stelle prüfen können.
Yusra hat eine glückliche Kindheit – sie schwimmt und trainiert professionell, ihre Schwester Sara ist nicht nur im Kinderzimmer, sondern auch im Becken an ihrer Seite und der sportbegeisterte Vater – selbst Trainer – fördert die beiden. Doch der Bürgerkrieg macht alles zunichte. Lang bleibt die Familie trotzdem in Damaskus und hofft, dass der Krieg sich legt und das Leben wieder neu beginnt. Stattdessen fallen Bomben und Raketen, teilweise sogar in den Pool, in dem Yusra gerade schwimmt. Es kommt der Zeitpunkt, an dem nichts anderes als die Flucht bleibt – ohne Dokumente (außer dem Pass), mit minimalem Gepäck und an der Seite vieler anderer machen Sara und Yusra sich auf den Weg. Ein Teil der Strecke geht über die Ägäis, von der Türkei nach Griechenland. Ein aufblasbares Boot, viel zu viele Menschen, ein kaputter Motor und Wellen, die erbarmungslos alles in die Tiefe reißen, das nicht schwimmfähig ist …
Das Label „Flüchtling“
Sie hadert mit der Abhängigkeit von anderen, ist aber doch „nur“ ein Teenager mit ihrer Schwester völlig auf sich gestellt. Sie sollte nicht allein in einem fremden Land sein und komplett für sich selbst verantwortlich. Mit den 130 Euro monatlich ist es wirklich nicht wirklich möglich, sich ein Leben aufzubauen, wenn man eigentlich zur Schule müsste und dafür geregeltere Umstände als ein Zeltlager braucht. Irgendwoher muss eine Basis kommen, damit sie nicht von Tag zu Tag lebt, sondern ihre Zeit sinnvoll verbringt – in ihrem Fall mit Training und klarem Fokus auf ein Ziel: bei Olympia zu schwimmen. Eine Wahl bleibt ihr indes nicht wirklich. Sie hadert mit dem Label „Flüchtling“ aber auch über dieses materielle Abhängigkeitsverhältnis hinaus. Sie fühlt sich herabgesetzt, eben gelabelt und ist doch ein ganz normaler Mensch. Perspektiven wie diese sind unfassbar wichtig für Verständnis und Yusra spricht hier dankenswerter Weise sehr offen.
So viel für uns zu lernen
Sie spricht zudem sehr offen die Fehler an, die wir als Gesellschaft begangen haben. Das findet nicht nur auf systematischer Ebene, sondern oft auch im persönlichen Bereich statt. Von Zugpassagieren, die die Polizei rufen, um die Gruppe Flüchtender aus dem Zug zu holen bis hin zu Unverständnis für und schlimme Vorurteile über das Leben der Flüchtenden vor dem Bürgerkrieg. Allein das Unverständnis darüber, dass sie Kriegsflüchtlinge und keine Wirtschaftsflüchtlinge sind, scheint sehr verbreitet zu sein und für äußerst unangenehme Situationen im Leben von Sara und Yusra gesorgt zu haben. Dabei bleibt sie unfassbar freundlich und erhebt keine Vorwürfe, sondern beschreibt einfach, was passiert ist. Welche Bedeutung man der Situation gibt, bleibt also dem/der Leser:in überlassen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Verständnis darüber, dass viele Flüchtlinge zwar nach Deutschland wollen (was ein Kompliment ist), aber nicht für immer bleiben – weil es nicht das Richtige für sie ist (das ist nicht negativ gemeint). Auch dafür muss man Verständnis haben, denn die Welt besteht nun einmal nicht nur aus uns und jede:r darf so leben, wie/sie möchte. Dazu gehört auch, dass man persönliche Ziele vielleicht woanders besser erreichen kann und das ist völlig okay. Yusra ist beispielsweise mittlerweile in die USA gezogen, um zu studieren. In Deutschland hätte sie 4 Schuljahre mehr machen müssen, um zugelassen zu werden, obwohl sie in Syrien nur noch ein Schuljahr gehabt hätte. Man kann nur gespannt sein, was sie noch aus ihrem Leben macht.
So viel Respekt zwischen den Zeilen
In bewundernswerter Offenheit beschreibt Yusra auch das Verhältnis zu ihrer großen Schwester Sara, die allmählich in den Schatten rückt, je mehr Yusra als Schwimmerin in die Öffentlichkeit tritt. Sie muss einen eigenen Weg finden, sich abnabeln von ihrer Schwester und das, nachdem ihre Flucht und die Jahre danach die beiden sehr enge Bezugspersonen hat werden lassen. Zeitgleich gewährt Yusra ihrer Schwester Privatsphäre, denn Sara soll, sofern sie möchte, irgendwann ihre eigne Geschichte erzählen. Sie soll für sich selbst wahrgenommen werden und nicht nur als Yusras Schwester.
Das Fazit
Insgesamt ist das Buch ein massiver Appell für Verständnis. Für andere Kulturen offener sein, vorher mal nachdenken und nach googlen, anstatt unbedacht Vorurteile zu reproduzieren. Verständnis für Entscheidungen, die man selbst nicht nachvollziehen kann, weil man einfach nicht in den gleichen Umständen lebt. Verständnis und Respekt finden sich auf jeder Seite, in jeder Zeile.
Mit aktualisiertem Nachwort für diese Neuauflage.
Yusra Mardini. Butterfly.
Knaur Verlag. 10,99 Euro.