Es gibt Bücher, die rotieren durch Social Media und sorgen für Wirbel. Wenn dann noch Ikonen wie Reese Witherspoon oder Adele den Praise unter dem Klappentext liefern, darf man neugierig werden. Es geht um „Ungezähmt“, das neue Buch von Glennan Doyle über ihr Leben und was es für sie heißt, eine Frau und sich selbst gegenüber treu zu sein.*
Sehr persönlicher Lebensweg
Der Auftakt ist an sich sehr spannend, denn die Leser:innen werden sofort in eine sehr persönliche Szene mitgenommen: Glennan Doyle verliebt sich in eine Frau und daher sagt sie den Kampf um ihre Ehe ab. Von der Therapeutin wird ihr direkt mal die Glaubwürdigkeit ihrer eigenen Emotionen abgesprochen. Psychologisch mag es möglich sein, dass sie sich in einen Rebound stürzt und dadurch aus dem aktuellen Problem entkommen wollte. Aber wenn sich jemand seiner Emotionen sicher ist, es kommuniziert und das scheint so gewesen zu sein, geht das Verhalten der Therapeutin zu weit.
Gemäß dieses Einstiegs nimmt die Autorin ihre Leser:innen mit durch ihr Leben mit Fokus auf die Zeit nach der zerbrochenen Ehe und ihrem Weg zu sich selbst. Wer Stationen ihres Lebens selbst nicht durchlaufen hat, wird nicht immer Bezug finden. Entsprechend schwierig ist die Beurteilung: Es geht nicht um dein oder mein Leben, sondern das von Glennan Doyle. Aus manchen Episoden kann man sich Stärke ziehen, sich hineinversetzen und es mit erleben, aus anderen eher nichts und das ist völlig okay so. Man muss keine Drogen nehmen, um mit der Autorin mitzufühlen.
Christlicher Beigeschmack
Insgesamt bekommt das Buch einen leider zu massiven Beigeschmack: Bisweilen wirkt „Ungezähmt“ wie das „Wiedergutmachbuch“ nach den Bestsellern, die sie als starke Kämpferin porträtieren, die bei Eintreten der Schwangerschaft auf kalten Entzug ging und ihr Leben „auf die Reihe bekommen hat“. Jetzt erklärt sie, das wäre alles nur nach gesellschaftlichen Zwängen geschehen und jetzt sei sie frei, alles davor war nur verfälscht und jetzt sei sie „gut“, weil sie sie selbst. Ihr Selbstverständnis mag sich geändert haben, jedoch geht es immer darum, sie als „gute Frau“, als gute Mutter und „guten Mensch“ darzustellen. Der Beigeschmack daraus ist die Selbstbeweihräucherung.
Es gibt gute Messages!
Wirklich, die gibt es. Sie lassen sich nur sehr prägnant zusammenfassen und brauchen vielleicht nicht unbedingt ein ganzes Buch: Reflektiere deine Ziele im Leben. Hast du diese gefasst, weil sie dir gesellschaftlich nahegelegt wurden oder willst du sie wirklich erreichen? Helfen sie dir dabei, die Person zu sein, die du wirklich bist oder sein willst? Außerdem: Es bringt nichts, immer nur Idealen hinterherzuhecheln. Dein Leben ist nicht dazu da, dass die Gesellschaft hinterher sagt „Mensch, wie gut sie unsere Standards erfüllt hat“. Insbesondere Mütter müssen auf sich achten und sich nicht ständig und vor allem für immer vollends zurücknehmen. Empfehlenswert dazu das dreiseitige Kapitel „Anleitungen“, in dem urplötzlich ein ganz anderer Humor durchschwingt und der Sarkasmus durch die Zeilen trieft – herrlich.
Final geht es doch nur um die Selbstdarstellung
Die oben erwähnte Selbstdarstellung kommt auch zum Tragen, wenn Glennan Doyle Unterhaltungen mit ihren Kindern berichtet. Kleinkinder, denen sie einen formvollendeten Monolog über ihre innere Stärke gehalten hat. Aus persönlicher Sicht kenne ich keine Mutter, die in dieser Wortwahl mit Kleinkindern über so große Themen spricht – aber natürlich lässt es sie wie eine äußerst kluge, umsichtige Mutter wirken.
Garniert wird dieser Gesamteindruck durch manchmal doch recht seltsame Aussagen, wie beispielsweise auf Seite 159: „Es scheint (im Wald, Anm.) überhaupt nichts in Sicht zu sein, abgesehen von diversen Tieren und Pflanzen und Schlamm und anderen Naturzeugs, das vielleicht typisch für Wälder ist. Genau kann ich das nicht sagen, ich war noch nie in einem Wald, weil Wälder nun mal nicht für Menschen gemacht sind.“ Wait, what? Ach ja, richtig, nur Häuser mit weißem Holzzaun und große Autos mit Klimaanlagen aus der Hölle sind für (amerikanische) Menschen gemacht. Oder ganz grundsätzlich ist nur das, was Menschen geschaffen haben, ein passendes Umfeld. Wie kann jemand so fernab der Umwelt / Umgebung existieren und sagen, sie habe das gefunden, was das Leben wirklich ausmacht? Welches Buch erscheint als nächstes von Glennan Doyle – „Wie ich den Zugang zur Natur und mein wahres Ich fand“?
* Eine Anmerkung zum Thema gendern, weil auf Seite 11 erklärt wird, dass bei explizit Frauen adressierenden Begriffen die weibliche Form eingesetzt wird. Sind Texte nur mit maskulinen Formen verfasst, wird zurecht vorgeworfen, dass das Quatsch ist, wenn alle anderen Geschlechter sich „mitgemeint fühlen sollen“. Sind Texte ausschließlich weiblich gehalten, bleibt das Argument übrigens gültig – niemand außer Cis-Frauen muss sich „mit gemeint“ fühlen und wird demnach nicht angesprochen. Entsprechend scheint das Buch in der deutschen Übersetzung eine binäre Weltanschauung zu supporten.