Madeline, Mattie, Linda – von ihrer Umgebung bekommt die Jugendliche viele Namen verpasst. Das macht ihr nichts aus und mit Indifferenz kennt sie sich bestens aus: Sie wächst tief in den Wäldern auf, wo einst eine Kommune lebte. Sie betrachtet das Paar, bei dem sie lebt, als ihre Eltern, aber ob sie es biologisch auch sind, ist gar nicht so klar. Emotionen zeigen diese kaum, daher wundert es nicht, dass auch Linda kaum soziale Bande knüpfen kann. In der Schule nimmt sie sehr früh eine Beobachterrolle ein, was sich bald auf ihr gesamtes Leben ausweitet. Damit nimmt sie Vorgänge, Geschehnisse und Eigenschaften bei Personen wahr, die vielen „Normalos“ verborgen bleiben. Ihrer Aufmerksamkeit entgeht wenig – aber das hilft ihr sozial leider wenig weiter.
Dann bekommt die Vierzehnjährige plötzlich neue Nachbarn: Eine Familie mit einem jungen Sohn namens Paul ziehen gegenüber am See ein und Linda fühlt sich wie magisch von ihnen angezogen. Zunächst wirken sie wie eine Familie, die ganz normal ist und damit vollkommen anders als die von Linda. Als Babysitterin für das Kleinkind Paul integriert sie sich Stück für Stück in dieses Konstrukt und kommt erst sehr spät darauf, dass hier etwas ganz und gar schief läuft: Paul geht es nicht nur nicht gut, er wird im Laufe der Geschichte sterben (kein Spoiler, steht von Anfang an fest). Hätte sie irgendetwas am Laufe der Geschichte verändern können?
Inhaltlich gibt es noch weitere Erzählstränge wie der um Lily, eine Klassenkameradin von Linda, die angeblich von einem Lehrer geschwängert wurde und sinnbildlich vermutlich für Lindas erwachende Sexualität steht. Insofern könnte man „Eine Geschichte von Wölfen“ das Attribut „coming of Age“-Erzählung geben.
Dadurch, dass die Charaktere eher gering ausgeprägte soziale Verhaltensweisen an den Tag legen, erhält das Buch ein besonderes Flair. Gerade Lindas Gedankenwelt deckt sich nicht mit der des Lesers, sodass man während der ganzen Erzählung selbst eine Beobachterrolle einnimmt. Aus dieser treibt man zwischen den verschiedenen Ereignissen, die teils mit zeitlichen Sprüngen erzählt werden, hin und her und versucht, sich einen Reim daraus zu machen. Teilweise weiß man gar nicht so recht, wohin die Geschichte geht. Das ist ein Punkt, an dem man etwas Punktabzug anmerken kann. Man weiß, Paul wird sterben, von Gerichtsverhandlungen ist die Rede. Aber wohin, zu welchem Höhepunkt steuert die Geschichte? Kritisiert die Autorin das Leben in Kommunen? Will sie sich seltsame Religionen vorknüpfen? Wettert sie gegen ländliches Leben in einer modernen Welt? Sagt sie „Passe dich sozial an, dann hast du die geringsten Probleme“? Man findet es nie ganz heraus. Das Buch bleibt insgesamt seltsam flach in der „Spannungskurve“ und eine Kernaussage hat sich mir beim Lesen nicht erschlossen. Das allerletzte Kapitel hat zusätzlich noch für Verwirrung gesorgt.
Technisch ist das Buch sehr gut geschrieben – die Sprache ist gewählt, aber nicht prätentiös. Man merkt der Autorin den Spaß im Umgang mit Worten an, sodass man die Geschichte ganz automatisch immer weiterlesen möchte – natürlich auch, um zu erfahren, wie es mit Paul ausgeht (auch wenn das in den Hintergrund rückt).
Fazit? Grauzone. Es ist kein fesselndes Buch, es ist in etwa so seltsam wie seine Hauptperson. Aber irgendwas reizt den Leser doch, bis zum Ende zu lesen.
Bettina Riedel (academicworld.net)
Eine Geschichte der Wölfe. Emily Fridlund.
Berlin Verlag. 22 Euro.