Ohne große Umstände wird Jack Reacher von der Army per Anzeige darüber informiert, dass sie seine Hilfe brauchen: John Kott ist wieder unterwegs, einer der besten Scharfschützen, den die US Army je hervor gebracht hat. Die letzten 15 Jahre hat er dank Reacher im Gefängnis verbracht – allerdings hat er seinen Lebensstil nicht aufgegeben, sondern eine fast einzigartige Methode genutzt, um seinen Kopf ausschließlich auf Reacher und Reacher allein zu fokussieren. Daher möchte die Army den lieben Jack als Lockvogel nutzen, um sich selbst eine Frage zu beantworten: Wer hat vor einigen Tagen ein Attentat auf den französischen Präsident ausgeführt? War es wirklich Kott oder ein Scharfschütze einer anderen Nation? Sie müssen den Täter so schnell wie möglich finden, denn in den nächsten Wochen steht ein G8-Gipfel an, auf dem mehr als nur ein Präsident in der Öffentlichkeit auftreten werden – und die geplanten Schutzmaßnahmen können nicht all die Möglichkeiten eines Attentats abdecken, die einem Scharfschützen vom Schlage Kotts als Option zur Verfügung stehen …
Die Kritik
Einerseits ist es ein typischer Lee Child, beziehungsweise ein typischer Jack Reacher-Roman: Es gibt ein Problem, das in Verbindung mit Jacks Leben steht und das muss gelöst werden. Ganz inoffiziell, ohne riesiges Verbrechen im Hintergrund und auf logischem Denken basierend. Andererseits ändert sich bei diesem Band einiges: Das Spielbrett ist plötzlich international, Jack Reacher wird von verschiedensten Behörden überwacht und andere Menschen seines Schlags nehmen jeweils Rollen in nicht unbeträchtlichem Umfang mit ein. Es ist eine Situation, da kommt auch Jack mit seiner Art zu Denken und zu Handeln nicht immer so gut klar, wie er es sonst in heimischen Gefilden schafft. Das Ganze ist also eine Herausforderung für ihn und kann ihm (aus Lesersicht) jederzeit über den Kopf wachsen – eine nette Abwechslung zu den sonstigen Büchern, wo ihm das Meiste recht glatt von den Händen geht.
Wer es nicht weiß: Lee Child erzählt sehr ruhig. Es gibt so gut wie nie Momente oder Szenen, in denen er die Leser mit psychopathischen Tätern konfrontiert, um sie durch den „Schock“ zu fesseln. In der Regel stolpert Jack einfach über ein Problem, das einen schwammigen Hintergrund hat und möglichst schnell gelöst werden sollte. Nur in seltenen Fällen wird die Polizei eingeschaltet, sodass er mehr oder weniger als Lonesome Cowboy mit zusammengeklappter Zahnbürste in der Hosentasche agiert. Diesem grundlegenden Setting „entflieht“ dieser Band diesmal zwar etwas, aber nicht ganz. Insgesamt ist es aber nicht der beste Jack Reacher-Roman. Denn gerade am Ende, wo es zunehmend spannend wird und werden sollte, hält der Autor sich zu sehr mit Beschreibungen der Umgebung auf. Das nimmt der Handlung den Wind aus den Segeln und lässt sie Spannungskurve deutlich abflachen. Die Auflösung des gesamten Rätsels erfolgt auch ohne großartigen Thrill, sodass man fast lapidar auf den wahren Hintergrund der gesamten Geschichte hingewiesen wird – wenngleich es rein von der Struktur als spontane Wendung am Ende geplant gewesen sein könnte. So geht ein Band, der mit interessanter und durchaus fesselnder Ermittlungsarbeit gefüllt war, etwas zu ruhig zu Ende.
Zuletzt ein kleiner Hinweis an alle Neueinsteiger: Dieser Band ist Nummer 19, kann aber auch ohne Vorwissen gelesen werden, man kann jederzeit bei Jack Reacher ein-, aus- und umsteigen. Es gibt maximal kleinere Anspielungen auf vorherige Geschichten, die sich manchmal nicht gleich erschließen. Der Autor gibt sich jedoch die Mühe, alles immer so zu erklären, dass alte Hasen nicht genervt sind und neue Leser trotzdem Bescheid wissen.
Fazit: Nette Sommerlektüre, weil man sie immer wieder unterbrechen kann, aber keine Pflichtlektüre, auch nicht für Jack Reacher-Fans.
Bettina Riedel (academicworld.net)
Lee Child. Im Visier – ein Jack-Reacher-Roman.
20,00 Euro. blanvalet.