Ein Buch zu rezensieren und damit zu beurteilen, das fast 100 Jahre alt ist. ist immer eine etwas absonderliche Situation. Allein, weil sich der Zeitgeist und der Sprachgebrauch enorm gewandelt haben, wird es da immer einen kleinen Abgrund geben, der in seiner Dunkelheit einiges gnädig verhüllen muss.
1930er Jahre: Virginia kündigt ihr Zimmer in dem Haus für alleinstehende Frauen und zieht von London aufs Land. Im Gepäck: Ein junger Affe namens Appius, den sie von Anfang an ganz selbstverständlich als Mensch erziehen möchte. Ihr Experiment soll zeigen, dass die Menschwerdung durch Erziehung und elterliche Prägung geschieht – ausgelacht von ihren Kolleg:innen geht sie in einem kleinen Cottage ihrer Wunschvorstellung nach.
Tatsächlich beginnt Appius, zu reden und hält sich für einen Mensch, doch es gibt immer wieder Stolpersteine und allein gelassen mit ihren Gedanken mutiert auch Virginia selbst immer mehr zu einer eher schrulligeren Persönlichkeit …
Der Leser:innen-Eindruck
Virginia und die Autorin sind Kinder ihrer Zeit: Das Buch wurde zuerst 1932 veröffentlicht und wir wissen alle, welche Themen damals in Sachen Biologie an der Tagesordnung standen – allein die Eugenik machte noch bis in die 2000er Jahre eine steile Karriere. Es ist also äußerst cringy, aber eben dem Zeitgeist entsprechend, dass unsere Protagonistin Virginia die Begriffe „Über-“ und „Untermenschen“ benutzt.
Ihre eigene Bildung hält sie für vollkommen und sich für wissenschaftlich so perfekt aufgestellt, dass sie sich in ihr Experiment mit Appius stürzt. Sie bemerkt selbst in einem Halbsatz, dass im Unterricht für Frauen so manche Themen überflogen oder gleich gar nicht unterrichtet wurden. Auf die Idee, dass ihr damit sehr relevante Informationen oder Kenntnisse fehlen könnten, kommt sie indes nicht. In ihrem Vorgehen ist Virginia maximal egozentrisch und das so pointiert, dass es perfekt in die Kritik passt: Sie kommt gar nicht auf die Idee, dass sie falsch liegen könnte. Was auch immer Appius macht, muss direkt mit ihr in Verbindung stehen. White Privilege, Rassismus, Kolonialismus und seine Hintergründe/Konsequenzen in a Nutshell.
Natürlich ist es immer leicht, aus der „Zukunft“ zurückzublicken und den Finger zu erheben – aber in diesem Falle geht es nicht um wissenschaftliche Forschung, die sich ergeben hat, sondern das menschliche Miteinander. Wäre das Buch ein Tweet, würde man sagen: Nicht gut gealtert. Es sei denn, man erkennt genau darin die Kritik an den damaligen Gegebenheiten – und kann so vielleicht etwas Positives für die Gegenwart daraus ziehen.
Die Menschwerdung des Appius beruht bspw. nicht darauf, dass er als Mensch erzogen wird, obwohl als Affe geboren. Die Autorin macht ganz deutlich, dass hinter der Kooperation von Appius keine Menschwerdung steckt, sondern ein Gefallenwollen. Er sagt, was Virginia hören will und hat dann seine Ruhe und seine ganz eigene Gedankenwelt, in die er abdriftet. Wie sich ein Affe fühlen würde et cetera, das ist in diesem literarischen Experiment natürlich reine Fiktion – und damit ein von der Autorin sehr bewusst genutztes Mittel, um Virginia und damit die geradezu wahnsinnige Hybris des Weißen Menschen in die Schranken zu weisen: Wir sind nicht die Krönung der Schöpfung, wir sind Teil der Natur und des natürlichen Kreislaufs. Und wer anders denkt / unterdrückt, ist ein ganzes Stück schlechter.
Ein Buch, das so simpel wie äußerst geschickt seine Statements liefert, sollte öfter gelesen werden. Gut, dass Manesse sich dessen annimmt und dabei nicht einfach ein kleines Taschenbuch auf den Markt bringt, sondern ein hochqualitatives Juwel in Sachen Bindung, Papier, Handling – es ist ein Genuss, der noch in jede Handtasche gepasst hat.
G. E. Treveleyan. Appius und Virginia.
Manesse. 26 Euro.