England am Ende des 19. Jahrhunderts. Sie war ein unbedarftes, freies, wildes Mädchen – bis ein Freund ihres Vaters um ihre Hand anhielt. Fortan zwängte man Cora in Korsetts und soziale Anspruchshaltungen sowie die Mutterschaft. Im Gegensatz zu ihr hadert der Pfarrer William Ransome nicht mit seinem Schicksal – er liebt seine Frau, die Familie und über allem Gott. Bis eines Tages die nunmehr Witwe Cora in seinem kleinen Ort auftaucht und offen zugibt, auf der Suche nach einer mythischen Kreatur zu sein: der Schlange von Essex. Sie bringt dem Ort seit Jahrhunderten Unglück, reißt angeblich Schafe und tötet sogar Männer in den Salzwiesen. Diese Schlange ist es, die Cora und William, die immer eigenwilligere Witwe mit dem verheirateten Gottesmann miteinander verbindet. Eine Verbindung, die mehr als nur skandalöses Potenzial mit sich bringt …
Unsere Meinung
Es klingt wie ein interessanter, sehr vielversprechender Gegensatz: Rationale, erforschende Naturwissenschaften treffen auf tiefgründigen Glauben, der sich nicht Beweisen aufhält, sondern einfach ist. Dafür nutzt die Autorin zwei gegensätzliche Persönlichkeiten: Zunächst einmal Mann und Frau, dazu aber auch Menschen, die in ihren gesellschaftlichen Rollen feststecken. Der Pfarrer ist nicht klein und glatzköpfig, die Witwe nicht alt und behäbig. Sie in Schubladen zu stecken, fällt nicht nur der Gesellschaft schwer, sondern auch den beiden selbst. Bis sie realisieren, dass sie sich mehr als nur anziehend finden, ist die Geschichte fast schon vorbei und die Frage nach der wahren Schlange von Essex fast geklärt.
Soll heißen: Die Versprechungen werden so gut wie nicht bewahrheitet – denn die „Naturwissenschaftlerin“ ist nur eine Dame, die sich keinerlei Ausbildung unterzieht oder sich dem Studium widmet. Sie beschließt einfach, Fossilien interessant zu finden, schnappt bei ihren Gesprächen mit Freunden ab und an etwas auf. Insofern gibt es keinen wirklichen Schlagabtausch zwischen Wissenschaft und Glaube. Der Glaube, der ist fest verankert und durch einen „Experten“ vertreten, was tatsächlich ein ziemliches Ungleichgewicht in die Geschichte bringt.
Womit direkt wieder die Rolle der Frau geschwächt wird, denn es könnte so schön sein: Sie wächst frei auf, muss sich anpassen und nutzt die erstbeste Gelegenheit, sich selbst wieder treu zu werden und auf die Anstandsregeln zu pfeifen. Sie wendet sich den Wissenschaften zu und findet an Erforschungen Gefallen. Mehr aber wird nicht daraus gemacht – außer, es wieder und wieder zu wiederholen (pun intended). Damit kommt der Rolle des Pfaffen mehr Bedeutung zu – per se nicht verkehrt und auch interessant, aber halt nur die Hälfte des erwarteten Geschehens. Macht das das Buch oder den Klappentext zur Zielscheibe der Kritik? Die Erwartungen verknüpft man tatsächlich durch die Rückseite des Einbands, die Geschichte selbst weist allerdings auch ihre Macken auf.
Den Schreibstil darf man trost als eigenwillig bezeichnen, was keineswegs negativ gemeint ist. Es dürfte aber durchaus den einen oder anderen Leser geben, der ihn nicht so mag und dann wiederum Fans dieses Stils. Insofern sollte man sich nach Möglichkeit vorab einlesen. Der Stil bedingt im Übrigen auch eine gewisse emotionale Distanz zu den Charakteren, was für eine Teilzeit-Liebesgeschichte auch etwas merkwürdig anmutet.
Das Fazit? Nutzt die Möglichkeit der Leseprobe – man liebt das Buch oder findet es schlicht befremdlich. Wohin du gehörst, musst du vorab so gut wie möglich herausfinden.
Die Schlange von Essex. Sarah Perry.
12 Euro. Goldmann.