Obacht, hier handelt es sich um Band 1. Die Reihe erschien schon Anfang der 2000er in Korea, nun liegen die 4 Bände übersetzt vor.
In dieser Welt leben vier große Völker, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Nagas sind schlangenähnlich und gelten als eroberungswütend – wir lernen Ryun Pey kennen, der von Anfang an seine eigene Gesellschaft in Frage stellt und mehr zufällig in das größte Abenteuer seines Lebens stolpert. Begleitet wird er von einem Mensch namens Kaygon Draka, der auf irrste verfeindet ist mit allen Nagas, die da so kreuchen und fleuchen. Pikantes Detail: Er verzehrt seine gefallenen Feinde. Davon halten ihn Tinahan, ein Lekon, und Bihyung, ein Dokebi, mehr ab, als sie es selbst denken.
Zusammen sollen sie den Naga wohlbehalten zu einem bestimmten Kloster bringen, wobei es nicht nur einige systemische Probleme gibt (Lebensgewohnheiten, Temperaturen, die allgemeine Sterblichkeit), sondern auch ganz besondere Widersacher, die sich nicht einfach mit einem Schlag von Tinahans mächtigem Speer beseitigen lassen. Es braucht mindestens 3, um sich gegen den einen zu behaupten, ist ein allgemeiner Spruch und so versuchen Kaygon, Tinahan und Bihyung nach Kräften, ihre „Fracht“ wohlbehalten ans Ziel zu bekommen, doch der Weg ist lang …
Der erste Leseeindruck
In die Geschichte reinzukommen, ist nicht ganz einfach. Man erfährt zwar jeweils etwas zu den vier Völkern, aber sie sind herrlich abstrakt – vor allem im Vergleich zu dem, was wir derzeit in Fantasybüchern präsentiert bekommen. Das macht es gleichzeitig faszinierend und wunderbar, denn die Gehirnzellen dürfen keine Pause anlegen und dürfen sich gänzlich anderen Vorstellungen als bisher widmen. Spoilerfreies Beispiel: Da ist die Rede von einem Gasthaus am Rande einer Wüste und sofort haben wir ein Haus aus sonnengebleichtem Holz vor Augen, in dem ein Mensch sitzt, von dem tatsächlich auch die Rede ist. Als nächstes betritt aber eine Figur das Haus, die 3 Meter groß ist und einen 7 Meter langen Eisenstab bei sich trägt – von einem behaglichen Wirtshaus am Rande der Welt kann also nicht die Rede sein. Allein die Sitzgelegenheiten müssen also kunterbunt sein und die Ausmaße ganz anders angelegt sein als in unserer initialen Vorstellung. Vieles ist also anders und darauf muss man sich bewusst einlassen.
Wie ist das Feeling?
Von Cozy oder romantisch kann hier keine Rede sein. Spätestens mit dem menschlichen Charakter (Kaygon) ist ein Element an Brutalität eingezogen, das seinesgleichen sucht. Es gibt eine spezielle Szene, die so emotional und physisch brutal ist, dass man durchaus erst mal das Buch beiseite legen darf. Andererseits passt es, dass gerade die menschliche Seite dieser Wesensgleichung so brutal ist, denn entspricht es nicht unserem Naturell? Sehr zynisch, ziemlich unbarmherzig und damit ein krasser Blick auf uns selbst. Insgesamt ist das Feeling also streng, realistisch, direkt und ein ernsthaftes Abenteuer, kein cutes Feelgood-Mätzchen. Insgesamt außerdem zurückhaltend, denn es gibt nicht den einen großen Auftakt, der uns den Sinn der miterlebten Exkursion erklärt. Lange wissen wir gar nicht, warum und zu welcher Prophezeiung die vier Helden to be unterwegs sind. Auch das ein großer Unterschied zu gängigem Material.
Matriarchalische Strukturen
Was richtig gut einschlägt, ist die matriarchale Struktur bei einem der Völker, den Nagas. Gerade als weibliche Leserin stutzt man oft und denkt: „Hui, die reden aber arg negativ über Männer, als wären sie wertlos, allein zur Reproduktion bestimmt.“ Dann macht es *klick* und man erkennt die Reflektion des Patriarchats. Das bringt uns zum Grübeln und schon ist man dabei, die eigene Lebensrealität zu prüfen und zu hinterfragen. Dabei geht es nicht darum, Männer zu bashen, denn auch in der weiblich geführten Gesellschaft gibt es viele Fehler, auf die ohne zu zögern hingewiesen wird. Soll noch einer sagen, Fantasy hat keinen Bezug zur Realität. Dennoch muss man sagen, dass in dieser Gruppe vier männlich gelesene Figuren auf dem Weg sind mit einer weiblichen Attentäterin auf den Fersen.
… und die Geschichte an sich?
Ist überraschend schnell vorbei, auch wenn es zwischendrin immer wieder mal Längen gibt. Sie führt uns durch bunte Gegenden, vorbei an mehr oder minder spannenden Gegenspielern und stellt große Fragen in den Raum: Was passiert mit einem Volk, das seinen Gott verloren hat? Wenn es keine Instanz gibt, die Form und Verhalten vorgibt? Damit werden wir zurückgelassen.
Lee Young-Do. Die Legende vom Tränenvogel – Das Blut der Herzlosen.
Heyne. 22 Euro.