… und welche Bedeutung hat unsere Herkunft? Wie prägen Ahnen unser Leben in der Gegenwart? Scheinbar einfache Fragen, deren Antwort mehr als nur inhaltlich kompliziert ist, sondern auch höchst subjektiv. Naïma wohnt, lebt und arbeitet in Frankreich, ist eine selbstbewusste junge Frau und hat keinerlei Berührungspunkte
mit Algerien, dem Land ihres Vaters und Großvaters.
Immer wieder wird sie von dem Gefühl befallen, dass sie es nicht schafft. „Es“ ist das Leben an sich. Je mehr sie darüber grübelt und in dem Gedanken festhängt, umso näher kommt sie der Entscheidung: Sich mit der Vergangenheit ihrer Familie und deren Herkunftsland Algerien auseinanderzusetzen. War ihr Großvater ein Harki, also ein geächteter Verräter des Landes? Und was bedeutet das überhaupt: Wen hat er verraten, in welchem Ausmaß für welche Seite gearbeitet und was heißt das heute, für das Hier und Jetzt?
Alice Zeniter hat einen etwas eigenwilligen Schreibstil, an den man sich anfangs etwas gewöhnen muss. Oftmals führt sie den Leser in seltsam erscheinende Gedankenexkurse, die emotional aber komplett stichhaltig und valide sind. Hat man das nicht nur akzeptiert, sondern auch gelernt zu genießen, entführt die Geschichte den Leser umgehend nach Algerien, lässt ihn nicht mehr so schnell los und taucht damit nicht nur in Naïmas persönliche Geschichte ein. Erzählt wird aus der ich-Perspektive, die nicht näher aufgelöst wird – aber alle 3 Generationen „kennt“: Ali, ihren Großvater, Hamid, ihren Papa und schließlich Naïma selbst. Anstatt die Perspektive so aufzubauen, dass sie von Anfang an „zurück“ nach Algerien reist, wird man als Leser direkt in Alis Leben im damaligen Algerien versetzt, das allmählich in Hamids Perspektive in Frankreich übergeht. Das ist sehr gut gemacht und schöpft das Potenzial für Abwechslung voll aus, weil man so nicht ausschließlich Zeit in Naïmas Kopf verbringt.
Das Bild, das die Autorin zeichnet, ist kein einfaches: Sie lässt sich gefühlt komplett nicht beeinflussen durch die heutige Flüchtlingsdramatik. Obgleich es mehr als genügend Parallelen gibt, schwenkt sie keine moralische Flagge. Sie beschreibt einfach ihren Fall, ihre vielleicht teils sogar eigene Geschichte. Die Charaktere in der Familie sind keine Helden, keine leuchtenden Vorbildfunktionen – aber auch keine Antagonisten – sie sind einfach Mensch. Gerade das ist das extrem Wertvolle dieses Buchs: Dass Menschen gezeigt werden, wie sie sind. Vieles, was man von außen sehen würde, könnte vielleicht sogar zu Provokationen führen. Verbringt man aber auch nur eine kurze Zeit inerhalb der Gedankenwelten, sieht vieles gleich anders aus – kann deswegen durchaus weiterhin kritisiert werden, aber Verständnis baut es auf jeden Fall auf.
Es entsteht ein sehr umfassenden Blick auf das zerrissene Verhältnis zwischen Frankreich und Algerien zu Kolonialzeiten und der Gegenwart. Ein Thema, das deutlich mehr Aufmerksamkeit verdient – gut, dass Alice Zeniter sich dessen so brillant angenommen hat. Es entsteht genauso ein Blick auf die heutige Gesellschaft, in der sich die Irrungen und Wirrungen vergangener Generationen tatsächlich noch auf die heutige auswirken. Die reine menschliche Willkür, Launenhaftigkeit, schlägt sich durchaus in den jeweiligen Gesetzeslagen aus – und sorgt damit auch für Probleme. Harter, weil wirklich tiefgreifender Tobak, der hier beschrieben wird und den Leser auch nach Ende der Lektüre lange beschäftigen und nachhaltig beeinflussen wird.
Und am Ende? Wird die gesamte traurige Poesie des Titels erst richtig offenbar.
Bettina Riedel (academicworld.net)
Alice Zeniter. Die Kunst zu verlieren.
Berlin Verlag. 25,00 Euro.