Herausgegeben von Verlyn Flieger ist mit „Die Geschichte von Kullervo“ eine Kurzgeschichte samt Begleitmaterial erschienen, die die Basis für viele Details des weltbekannten Epos aus Mittelerde bildet. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht Kullervo, dessen Vater von Kullervos Onkel erschlagen und die Mutter geraubt wurde. In dieser „Gefangenschaft“ wächst Kullervo mit seiner Zwillingsschwester heran und schwört schon als junges Kind, seinen Vater zu rächen. Daraufhin unternimmt sein Onkel 3 Versuche, um den Jungen zu töten, doch dank der beschützenden Magie eines Hundes überlebt Kullervo. Schließlich wird er als Sklave an einen Schmied verkauft, um so weit wie möglich von seiner Mutter und seiner Schwester ein ödes Dasein zu fristen. Doch wie es das Schicksal so will – Kullervo erhält seine Chance auf Vergeltung …
Die Kritik
Was man rein vom Umschlag leider nicht erfährt ist, dass die Geschichte von Kullervo an sich relativ kurz ist und nur einen kleinen Teil des Buchs ausmacht. Die restlichen Seiten sind gefüllt mit Essays, Niederschriften von Vorträgen und anderen Begleittexten. Deswegen ist ganz klar: Das Buch ist etwas für Liebhaber von Mittelerde, die etwas über Hintergründe erfahren möchten und Spaß daran haben, etwas Ursprüngliches über diese Welt zu erfahren. Wer jedoch als erstes die Geschichte lesen möchte, ohne gespoilert zu werden, sollte sich die Kapitelaufteilung anschauen und direkt mit der Erzählung beginnen – und zum Beispiel schon die Einleitung erst später lesen.
Was wunderbar gelöst ist, ist, dass sowohl die englische als auch die übersetzte Fassung nebeneinander enthalten sind: links englisch, rechts deutsch. Dabei schließen die Seiten immer an der exakt gleichen Stelle ab, das muss man sowohl von der Übersetzung als auch dem Layout her erst mal schaffen. Es erleichtert die Vergleichbarkeit des Originals und der Übersetzung enorm!
Spannend sind auch die begleitenden Texte, die gar nicht mal enorm literaturwissenschaftlich verfasst sind. In großen Teilen wirken sie einfach wie die niedergeschriebenen Gedanken eines Mittelerde-Fans, der ein Faible für Analysen hat. Das überträgt sich auf den Leser und so entdeckt man auch als „Kenner“ durchaus die eine oder andere Information über Mittelerde, die man so noch nicht parat hatte.
Was nun das Besondere an der Geschichte selbst ist? Ganz kurz gefasst, dass es eine Legende ist, die quasi ein Teil des kulturellen Hintergrunds für Frodos Gesellschaft ist. Zeitgleich ist es einer der früheren Schreibversuche eines späteren Wahnsinns-Autors und damit auch ein ganz persönlicher Entwicklungsschritt. Die Parallelen zu späteren Erzählungen sind unübersehbar und so erhält man als Leser quasi die Chance, einen Blick über die Schulter eines längst vergangenen Lebens zu machen.
Bettina Riedel (academicworld.net)
J.R.R. Tolkien. Die Geschichte von Kullervo.
Klett-Cotta. 22 Euro.