Senlin und seine junge Frau Marya wagen die Reise aus ihrem beschaulichen Fischerdörfchen zu „dem kulturellen Zentrum schlechthin“: Sie reisen in ihren Flitterwochen zum Turm. Das Gebäude ist so massiv, dass jedes Stockwerk ein eigenes Ringreich darstellt und zumeist einer autonomen Regierung unterliegt. Ein Ort der Bildung und Faszination, auf die sich der schlaksige Schuldirektor und seine junge, quirlige Frau sehr freuen. Diese Freude wird allerdings jäh getrübt, als Marya noch vor dem Betreten des Turms spurlos verschwindet. Senlin steht alleine in einer sich stetig verändernden Umgebung, denn der Turm zieht nicht nur Touristen, sondern allerlei fadenscheiniger Gestalten an. Er wird ausgeraubt, verbringt Stunden mit der Suche und macht sich schließlich auf den Weg in den Turm, denn im dritten Ringreich wollten er und Marya ihre Zeit verbringen und vielleicht wartet sie dort bereits auf ihn …?
Die Kritik
Der Autor spricht eine absolut deutliche Bildsprache: Um in den Stockwerken voranzukommen und aufzusteigen, muss Senlin beispielsweise eine sprichwörtliche Rolle spielen und Erwartungen gerecht werden. Natürlich, während „alle“ ihm zusehen und ihn beurteilen. Als er mit seiner Rolle in der Gesellschaft bricht, wird er im wahrsten Sinne des Wortes ausgeschlossen und vorübergehend eingesperrt. Andere erhalten ein permanentes Stigma und werden vollständig an den Rand der Gesellschaft gedrängt.
Viel offener kann man die Gesellschaft gar nicht porträtieren und kommt an einer kleinen, aber feinen Feststellung gar nicht vorbei: Wenn der Turm im Zentrum der Aufmerksamkeit und Kritik steht, steht dann ein feministischer Autor vor der Tür? Türme sind schließlich nichts anderes als bildtechnisch gigantische Phallussymbole. Hier liegt also eine Geschichte vor, die nicht nur einfach von Einzelschicksalen erzählt, sondern diese in eine sorgfältig überlegte Welt einbettet, in der wirklich alles eine erzählerische Funktion hat.
Auf die individuelle Ebene hinuntergebrochen, haben die Leser mit Senlin einen eigenbrötlerischen, fast schon nerdigen Hauptcharakter, der absolut pointiert beschrieben wird: Seine Art, Marya als Braut zu umwerben, seine Vorgehensweise, um sie wiederzufinden, sein anfängliches Versagen im Umgang mit Menschen. Liebenswert, nicht unintelligent, aber etwas zu vertrauensselig. Die Lobsprüche auf der Rückseite des Buchs, die ihn mit einem gewissen Hobbit vergleichen, scheinen tatsächlich sehr naheliegend und zutreffend. Er ist sympathisch, kein Karrieretyp, kein Kragenträger oder Redenschwinger, sondern eher der Typ mit dem Buch unterm Arm und dem Tee in der Hand.
Herausgekommen ist eine Geschichte, die mit vielen Wendungen, Überraschungen und teils philosphischen Anschauungen zu beeindrucken weiß – und zu unterhalten, und das ganz vorzüglich. Niemals verliert die Hauptperson das Ziel aus den Augen und fast jede Handlung ist darauf bezogen. Trotzdem ergeben sich ganz nebenbei Zusatzgeschichten, die den eigentlichen Erzählstrang anreichern. Sehr faszinierend, sehr intelligent und anmutig erzählt.
Bettina Riedel (academicworld.net)
Josiah Bancroft. Im Turm.
Heyne. 15,00 Euro.