Die Wissenschaft stellt mit ihren Experimenten und Theorien, ihren Laboren und Instituten, Professoren Stellen und Forschungsetats das System, mit dem wir heute versuchen Wahrheit zu erkennen und in der Gesellschaft zu manifestieren.
Wer bestimmt, was richtig ist?
Die Suche nach Wahrheit scheint in uns zu liegen, auch wenn wir nie objektiv genug sein können, sie ein für alle mal zu erfassen. „Wahr ist nur, was nicht in diese Welt passt“, schrieb Adorno und kam doch ohne „das Aufscheinen der Wahrheit“ nicht aus, jenem kurzen Moment, in dem wir glauben, etwas Grundsätzliches erkannt zu haben.
Wir haben herausgefunden, dass wir mit einem Stein Nussschalen zerschlagen können, und dass der Penicillinpilz Bakterienkulturen angreift. Unser Wissen führt aber auch dazu, dass wir mit Antibiotika Zugabe bei der Tiermast unsere große Lust auf Fleisch befriedigen und gleichzeitig die eigenen Abwehrkräfte und Fruchtbarkeit schwächen. Hinter all dem steht unsere ewiger Wunsch nach einem „besseren Leben“ und wir sind gerade erst dabei zu erkennen, dass das bessere Leben wenig mit ständig steigender Bedürfnisbefriedigung zu tun hat.
Eine objektive, immer gültige Wahrheit wurde zusammen mit Gott im Laufe der Philosophiegeschichte abgeschafft. Wo es keine allgemeingültige Wahrheit mehr gibt, kann es auch kein unverrückbares Richtig und Falsch, Gut und Schlecht mehr geben: Eine grundsätzliche Moral existiert heute nicht mehr.
Richtig und Falsch – das gibt es nur bei Menschen
Unsere Werte sind niemals zeitunabhängig und objektiv beweisbar. Sie sind immer (nur) Ideen in unseren Köpfen. Sie existieren nicht außerhalb von uns, sie sind von Menschen erfunden und somit veränderbar und würde der Mensch verschwinden, so gäbe es auch nicht länger die Ideen von Richtig und Falsch. Tiere suchen nicht nach Sinn, nach Werten, Moral und Wahrheit, weshalb sie auch keinen Genozid begehen.
Unser Glaube an Richtig und Falsch ist jedoch der Grundsatz unserer Kultur und gibt uns die überlebenswichtige Orientierung. Deshalb haben Werte eine ungeheure Macht, wir stellen unser Leben in ihren Dienst oder löschen sogar andere aus. Wenn man die Werte eines anderen Menschen in Frage stellt, behauptet, sie hätten keine letztgültige Wahrheit, wären subjektiv und relativ, kann man in Bayern dafür ein Glas Bier ins Gesicht geschüttet bekommen und in Teheran oder Guantánamo gefoltert werden. Kriege entzünden sich in den Tempeln, denn wir beanspruchen für unsere Wahrheiten und Werte schnell mehr als nur unseren Glauben.
Viele, besonders ältere Menschen insistieren auf die universale Richtigkeit ihre Werteordnungen (und befinden sich mit dieser Sehnsucht nach der eigenen Letztgültigkeit im illustren Kreis von Hegel, Marx und vielen anderen sogenannten Geistesgrößen, die mit ihren Wahrheiten viel Schaden angerichtet haben). Denn die ständige Veränderung der Welt ist ein Spiegel der eigenen Vergänglichkeit: Die hart erkämpfte Position in der Gesellschaft schwindet, das eigene Richtig und Falsch veraltet und es stellt sich die Frage nach dem Wert des so verbrachten Lebens – und der dafür erbrachten Opfer. Neue junge Menschen mit Geltungsdrang, eigenen Ideen und Machtansprüchen erscheinen auf der Bildfläche der Kultur. Doch auch ihnen wird ihre Endlichkeit irgendwann bewusst werden und die Vergänglichkeit ihrer Ikonen. Und immer wieder stellt sich so die Frage nach dem Sinn des Ganzen.
Ohne Mensch kein Gott
Lange Zeit hat der Mensch versucht, seine Moral durch Gottes Willen zu manifestieren. Gott ist eine mögliche Antwort auf das große X hinter unseren Fragen, das wir im Laufe der Zeiten und Kulturen immer wieder anders füllen. Der Beweis für sein Dasein entspringt immer nur der (eigenen) Erfahrungswelt: Gott hat genauso wie all unsere anderen wertgebunden Wahrheiten, keine allgemeingültige, menschenunabhängige Existenz. Gäbe es keine Menschen, würde niemand mehr nach dem Sinn des Lebens fragen. Gott soll zwar auch der Vater aller anderen Lebewesen sein, aber das scheint die überhaupt nicht zu interessieren.
Die Psychologie hat ihre eigene Wahrheit über Gott: Unsere Sehnsucht nach dem Vater im Himmel, der bestimmt, was Richtig und Falsch ist, bewusst über uns wacht, uns persönlich kennt, liebt, straft oder belohnt ist aus psychologischer Sicht nur eine kindliche Sehnsucht nach einer schützenden Übermacht, die unsere Anstrengungen anerkennt, uns im Diesseits oder Jenseits Gerechtigkeit wiederfahren lässt und Wiedergutmachung für alles erlittene Leid.
Religiöser Glaube gleicht der Sehnsucht nach Geborgenheit, Beachtung, Zuwendung und Wertschätzung; die monoton wiederholten religiösen Handlungen und ritualisierten Sätze gleichen Zwangshandlungen gegen die Ohnmacht des Schicksals, zur Abwendung von möglichem Ungemach. Religion und Gott beruhigen unseren infantilen Narzissmus: Wir glauben zu wissen, was Gott will, um dann mit „artigem Verhalten“ unser ängstliches Ego aus der Willkür der Welt herauszuretten. Wir verkünden Gottes Wahrheit, um uns Bestätigung zu verschaffen von ihm und von den anderen in unserer Glaubensgemeinschaft. Wir integrieren uns in sein Regelwerk, um unser Überleben in der Gruppe der Gläubigen zu sichern und uns das „Sterbenmüssen“, diese größte Kränkung unseres Egos, gemeinsam zu erleichtern.
Das gibt uns Kraft und lässt uns vieles besser erdulden, denn unser persönliches Leid bekommt einen höheren Sinn und das streichelt unser Selbstwertgefühl. Somit hat der Glaube an Gott eine Existenzberechtigung und einen Überlebensvorteil – jedenfalls solange wir nicht der Verführung erliegen unseren Gott zusammen mit unserem Selbstwertgefühl so weit aufzublasen, dass wir uns über andere erheben, sie vom Gedanken der Gleichberechtigung ausschließen, bedrohen oder umbringen.
Und die Kirche?
Mit den Resultaten unseres Wissenschaftsbetriebs ist es heute oft nicht besser bestellt, als mit den Wahrheiten der Kirchen. Die Institute der Naturwissenschaft und ihre Erkenntnisse sind ebenfalls Produkte unseres Geistes und auch in forschenden Köpfen herrscht die Sehnsucht nach Anerkennung und Aufmerksamkeit und der Glaube, dass viel Geld gut ist.
Unsere wissenschaftlichen Wahrheiten sind stark von der Fragestellung, der moralischen Motivation und den Einkommensverhältnissen des Fragenden abhängig. Unsere Forschung beobachtet immer nur Teilaspekte, die aus dem großen Naturzusammenhang herausgenommen werden. Ihre Auswahl und die Durchführung der Experimente (auch die hier erwähnten) sind vom Denken, den Erwartungen und Werten des Wissenschaftlers abhängig, genauso wie die Interpretation der Ergebnisse. Konzerne und andere Interessengemeinschaften können sich Wissenschaftsergebnisse kaufen, indem sie Geld in diese Wahrheitsmaschine einschleusen, um selbst wiederum mit den Resultaten Geld für sich und ihre Aktionäre zu verdienen.
Alles was heute „wissenschaftlich bewiesen“ scheint, entspringt nur einem von Menschen gemachtem System der Wahrheitsfindung und seinen Institutionen.
Ein wunderbares Beispiel für das Wechselspiel von Wahrheit und Werten im Wandel der Zeit ist unsere Meinung über und unser Umgang mit Sexualität. Bis vor vierzig Jahre war der von der Kirche verkündete Glaube, dass Onanieren zum Rückenmarksschwund führe, weitverbreitet. In unserer heutigen Werteordnung gibt dagegen der Staat eine wissenschaftliche Studie in Auftrag, um zu prüfen, ob Viagra von der Sozialkasse bezahlt werden muss, weil der Mensch ein Recht auf Sex habe und bei unzureichender Ausübung eventuell krank wird.
Auch beim Schuldgefühl, als bestes aller Manipulationsmittel, hat die Wissenschaft das Christentum beerbt: Das von der Kirche erzeugte Schuldgefühl gegenüber unserem Seelenheil wurde vom Schuldgefühl gegenüber unserem Körper abgelöst, dass nun der Wissenschaft und ihren Produkten die Ablassgroschen in den Kassen klingeln lässt.
Da wir den Fortschritt für einen Zugewinn an Wahrheit halten, glauben wir, dass unser System der Wissenschaft besser in der Wahrheitsfindung ist, als alle anderen davor. Und weil wir bei Kopfschmerzen zu Aspirin greifen können, sind wir bestechlich geworden, allen Antworten aus dem Wissenschaftsbetrieb zu folgen.
Was passiert, wenn wir davon überzeugt sind, die Wahrheit für alle Menschen und für immer gefunden zu haben, hat uns die Geschichte mit ihren Religionskriegen, ihren nationalistischen und kommunistischen „Wahrheiten“ (hoffentlich) zu genüge gezeigt.
Unsere Vorstellungen von Richtig und Falsch, von Gut und Schlecht, von Wichtig und Wahr sollten daher immer wieder hinterfragt werden. Nichts, was als Richtig oder Falsch galt und gilt, nichts, was irgendjemand für Richtig oder Falsch hält – und sei er auch in unserer Gesellschaft, auf unserer Erde noch so anerkannt – ist für alle anderen oder für alle Zeiten richtig oder falsch!
Dieser ewige Wandel der Werte bedeutet für uns Unsicherheit – und Freiheit. Es sind die zwei Seiten der selben Medaille. Wir können uns niemals darauf verlassen, dass das, was wir glauben oder wie wir leben beständig bleibt, doch wir haben auch immer die Freiheit, es mitzugestalten.
Die Möglichkeit zur Freiheit, die Tatsache, dass niemand für alle Zeit bestimmen kann, was richtig und falsch ist, ist gleichzeitig der Trost für die ewige Unsicherheit: Wir können unsere Werte selbst bestimmen, auch wenn wir das immer wieder aufs neue tun müssen. Jeder kann sich sein eigenes Maß suchen.
Katharina Ohana moderiert als Psychologin und Philosophin für verschiedene Fernsehsendungen. Ihr Buch „Gestatten: Ich – Die Entdeckung des Selbstbewusstseins“ ist beim Gütersloher Verlagshaus erschienen und erklärt die Entstehung unserer Persönlichkeit und unserer Probleme – und wie wir sie loswerden können.
Mehr von ihr gibt es auf KatharinaOhana.de