Anfang der 2000er Jahre trödelt ein junger Mann in Cleveland sich durch sein Leben – hier mal eine Dosis Heroin, da mal noch eine Line, dort ein Gelegenheitsjob, am anderen Tag mal eine Bank ausrauben: Er ist das amerikanische Sinnbild eines vergeudeten Lebens auf der schiefen Bahn. Und das, obwohl der Junge sogar mal ganz brav im Dienste der US Army stand, was für Amerikaner gleichbedeutend mit Disziplin, Ehre und Nationalstolz ist. Wie geriet er, der Unbekannte, also ins Kreuzfeuer des Lebens?
Zunächst muss man das Buch ganz eindeutig mit „die USA und ihre gesellschaftlichen Eigenheiten“ im Hinterkopf lesen. Denn Nico Walker schreibt frei vom Fleck weg – direkt, offen, ist nicht auf Komplimente aus. Man bekommt quasi Gedanken in Reinform mit, die nicht geschönt und auch nicht anders künstlich verändert werden: Straftaten werden beispielsweise völlig lapidar erzählt, die emotionale Distanz des Erzählers zu seiner Umwelt ist offensichtlich. Obwohl angeblich nicht im Geringsten autobiographisch inspiriert, könnte einiges davon tatsächlich seinen Ursprung in der Realität haben: Der Autor ist aktuell noch im Gefängnis. In „seinem“ Buch zeichnet er das Bild eines Menschen, der in seiner Jugend eigentlich alles hatte und damit die besten Voraussetzungen, ein gesellschaftlich anerkanntes Mittelschichtleben zu führen.
Trotzdem rutscht er in die Drogensucht ab und verkörpert damit die Horrorvorstellung amerikanischer Eltern schlechthin: Trotz finanziell stabiler Eltern aus dem gesunden Mittelstand und Zugang zu Bildung wählt sein Leben ganz absichtlich den „falschen“ Weg. Da muss etwas ganz falsch gelaufen sein, denken sich so manche und die Antwort ist „Ja“. Was Nico Walker aber sehr gekonnt macht, ist, dieses „Ja“ mal bei seinem Protagonisten und mal in der amerikanischen Gesellschaft zu verankern. Heraus kommt ein Porträt des Mittelstands in den USA, das eigentlich gar nicht so schockierend ist, zumindest, sofern man zu den Lesern gehört, die mit offenen Augen durch das Leben gehen. Dem Buch nur wegen der hohen Anzahl von Flüchen, Schimpfworten, Fäkalausdrücken und Co hat einen „Hardcore-Status“ zu verleihen wirkt etwas redundant. Dennoch ist das Buch eines, das man sich durchaus gepflegt zu Gemüte führen sollte.
Was tatsächlich also viel interessanter als dieses persönliche Schicksal ist, sind die Schemen, die hinter der Geschichte auftauchen: Dass der amerikanische Traum vom Haus mit dem weißen Gartenzaun et cetera manchen Menschen offenbar nicht reicht, um sich den gesellschaftlichen Anforderungen zu beugen. Denn unser Hauptcharakter, nonchalant, wie er sich gibt, hat darauf schlichtweg keinen Bock – und entzieht sich damit den gängigen Wertvorstellungen. Niemand übt Macht über ihn aus: weder seine Mitmenschen, noch die Gesellschaft. Auf Gesetze pfeift er nicht so richtig, aber richtet sich auch nicht ganz danach.
Genau diese „Lustlosigkeit“, diese Egalität gegenüber allem bekommt auch die Leserschaft zu spüren: Er scheißt auf Stil, er kümmert sich nicht um Dramatik und Erzählkunst. Er schreibt, wie er es nun einmal gesehen hat – unsere Meinung hat hier nichts zu suchen. Und in genau diesem Moment wird das Buch zu einem kleinen Kunstwerk – denn wo bekommt man das sonst alles so brühwarm aufgetischt, ohne es Marketingtechnisch zu erweitern, um ja die Leserbedürfnisse zu erfüllen?
Ohne diesen Druck entwickelt auch sein Geist, natürlich unter Drogeneinfluss massiv geschädigt, sich in eine ganz andere Richtung weiter. Während der Rest sich mit Krediten abmüht, um „den Traum“ gut sichtbar für alle zu realisieren, macht er sich unabhängig von dem ganzen Theater. Auch in dieser Hinsicht ist er vielleicht eine „Cherry“, wie die Frischlinge bei der US Army genannt werden.
Cherry. Nico Walker.
Heyne Hardcore. 22 Euro.