Der siebzehnjährige Charlie Reade hatte kein einfaches Leben. Seine Mutter starb unter tragischen Umständen, als er gerade einmal sieben Jahre war und sein Vater rutschte daraufhin in eine Alkoholsucht ab. Viel konnte er an der Lage nicht ändern, aber er gab Gott ein Versprechen: Wenn Gott hilft, seinen Vater vom Alkohol wegzubringen, wird Charlie in seiner Schuld stehen.
Als Charlie eines Tages am sogenannten Psychohaus vorbeikommt und den verletzten Nachbarn sieht, interpretiert er dies als Zeichen Gottes. Er hilft dem alten Mann, pflegt ihn und freundet sich mit ihm an. Doch der Mann, sein Hund und das Haus bleiben auch nach längerer Zeit geheimnisvoll für Charlie. Erst mit dem Geständnis des alten Mannes auf seinem Sterbebett erfährt Charlie von dem Geheimnis. Oder sollte der Junge es lieber Bürde nennen? Eine Reise in eine andere, epische Welt beginnt…
Kein klassischer King! Oder doch?
Der Klappentext und auch das Cover versprechen den gewohnten Gruselfaktor, den Stephen King uns Leser:innen beschert, doch Fairy Tale ist kein gewohnter Schauerroman. Dieses Mal geht es eher seicht zu und die krassen (Ekel-)Schocker bleiben aus. Dennoch muss man nicht auf die geliebten Details verzichten, die einen King ausmachen: Ein etwas zynischer Humor, ein alltäglicher Ort wird plötzlich zu etwas Besonderem und Wesen, die die Vorstellungskraft übersteigen. Alles findet sich auch in dem Werk Fairy Tale wieder. Dazu kommt auch eine ordentliche Portion Spannung und Gänsehautmomente! Der Anfang ist zwar etwas langatmig, aber nach und nach führt der Autor uns Leser:innen in eine Welt, aus der man nicht mehr auftauchen will. Bei knapp 900 Seiten hat man auch genug Zeit Charlie auf seiner Reise zu begleiten!
Wie immer versteckt King Themen, die einen zum Nachdenken anregen. Dieses Mal geht es um Verlust, Trauer, Freundschaft, Zusammenhalt und die Liebe.
Heldenhafter Protagonist und starke Nebencharaktere
Charlie kann man wohl als durchschnittlichen US-High School Jungen bezeichnen. Er lebt in einer idyllischen Kleinstadt, spielt aktiv in den Sportteams seiner Schule und hat ein paar enge Freunde, mit denen er Scheiße baut und durch dick und dünn geht. Auch seine Reaktionen sind sehr alltäglich: „Erst mal das Handy checken“ 😉. Darüber hinaus zeichnen ihn aber auch andere Werte aus, die nicht jede:r hat. Dazu zählen Mut, Kampfgeist, Selbstlosigkeit und das Nichtverurteilen von Menschen, die anders aussehen. Vor allem letzteres ist ein wichtiger Punkt und greift unterschwellig die Thematik Rassismus und Diskriminierung auf. Sensibel verpackt, aber trotzdem ein Seitenhieb an die Gesellschaft, der aufruft Diversität zuzulassen und Leute nicht nach dem Aussehen zu verurteilen.
Aber auch die Nebencharaktere wurden sehr schön ausgearbeitet. Von Charlies Vater, der durch seinen Entzug einen Wandel hingelegt hat, über den alten Mann, welcher etwas eigenwillig, aber eigentlich eine coole Socke ist, bis hin zu den Gefährten, die er auf der anderen Seite des Weltenbrunnens trifft. Vor allem die Prinzessin mit ihren Verwandten, die Heilgebliebenen und natürlich die zuckersüße Schusterin. Schön ist es, dass in der Anderwelt Gastfreundschaft, Zusammenhalt und Loyalität großgeschrieben werden. Attribute, die Charlie in den USA so nicht immer erlebt hat.
Kleiner Bonus: Die süße Hündin Radar, die durch sein schicksalhaftes Zusammentreffen mit dem mysteriösen Nachbarn ein Teil von Charlies Leben geworden ist.
Fazit
Wer denkt, dass Märchen für Erwachsene out sind, soll einen Blick in den neuen King werfen, denn er überzeugt vom Gegenteil! Fairy Tale ist zwar nicht Cinderella oder Schneewittchen, aber dennoch ein neumodernes Märchen, das zum Träumen, und Mitfiebern einlädt und einem vielleicht auch etwas zum Nachdenken bewegt.
Lisa Albrecht (academicworld.net)
Stephen King. Fairy Tale.
Heyne. 28,00 Euro.