Salims Vater entzieht sich der Familie, als er gerade einmal 7 Jahre alt ist. Der Junge versteht gar nichts und versucht doch, hinter die Kulissen zu blicken. Doch bevor er das schafft, muss er auswandern, sich in einer fremden Welt zurechtfinden und seine Mutter verlieren. Erst jetzt ist es ihm möglich, das damals Geschehene aufzuarbeiten und seinen Platz in der Welt vollends einzunehmen.
Der Leseeindruck
Generationenkonflikte bieten sich immer hervorragend an, um Personen mit unterschiedlichen Perspektiven zu präsentieren und zueinander zu positionieren. In dieser Familiengeschichte springen wir wie Tennisbälle zwischen Salim, seiner Mutter und seinem Vater hin und her. Kleinere Nebenrollen kommen der jüngeren Schwester zu sowie dem neuen Mann an der Seite der Mutter. Da genau diese Personenkonstellationen entscheidend sind, besprechen wir das Buch anhand selbiger.
Der Vater
Das Buch vertritt die These, dass zwischen Vater und Sohn ganz grundsätzlich eine wichtige Beziehung besteht, eine einzigartige und vor allem eine das Kind intensiv prägende. Umso stärker fällt ins Gewicht, dass diese Vaterfigur eines Tages völlig wegfällt. Statt Vorbild zu sein und Verantwortung zu übernehmen, ist Salim diesbezüglich allein und beobachtet mit dem Unverständnis eines Kindes eine emotional sehr komplexe Situation – die er sich natürlich einfach nicht erklären kann. Also wird beobachtet und ein Urteil gefällt, wie man so schön sagt, in völliger Unkenntnis der Sachlage. Im Laufe des Buches erkennt er die Wahrheit der damaligen Geschehnisse und arbeitet sie so auf, dass die Vater-Sohn-Beziehung wieder hergestellt wird.
Die Mutter
Nimmt keine aktive Rolle ein, sondern fungiert neutral. Sie will angeblich nur, dass er funktioniert und als er das nicht tut, schickt sie ihn weg. Es wirkt, als wolle sie nur ihr eigenes Leben zufrieden leben, Problemen ausweichen und zur Not alles totschweigen, was beredenswert wäre. In einem Passus wird sie absolut diffamiert, als wäre sie völlig unfähig und könnte quasi mit einem Hefeklops ausgetauscht werden, was Charakterstärke und Handlungswillen angeht. Wenn hinterher die Wahrheit herauskommt, zeigt sich das Schicksal einer Frau, die gezwungen wird. Bringt sie ihrem neuen Mann wirklich Liebe entgegen oder ist es ein Stockholm-Syndrom? Oder der gebrochene Wille einer Mutter, sich zu fügen, damit der Schwester nicht auch noch ein Schicksal wie Salim bevorsteht? Hier präsentiert der Autor einen Krater, den er nicht zu füllen vermag.
Die Schwester
Am Ende zeigt sie ihm ihr Leben, das sehr viel weniger gezwungen, getrieben und sehr viel luxuriöser als das seine verläuft. Sie fungiert als der Ausblick auf ein Leben, das er hätte haben können, wenn er sich dem Establishment untergeordnet hätte. Dabei hätte er aber die Bindung zu seinem Vater lösen müssen und wäre Teil einer Maschinerie geworden, die keinen Fokus auf Einzelschicksale erlaubt. Schön, dass es ihr gut geht – aber sie ist Symbol einer Welt, die kritisiert wird. So wird auch die zweite feminine Rolle sehr gering geschätzt und abwertend dargestellt. Wo soll sie denn sonst hin, die Schwester? Auf die Straße statt an die Uni?
Der neue Mann
Er ist der Unheilsbringer, der die Mutter auf den Irrweg gebracht hat. Wie? Das erfährt man erst am Ende. Charakterlich wird er kurz skizziert als ein gewiefter Geschäftsmensch, der in einem ungerechten System an die Spitze gelangt ist und damit zu den Bösen gehören muss. Auch er erhält keine Perspektive, was wenig verwundert, denn dann könnte das Buch eher gen Psychothriller avancieren. Er ist also schlicht das Symbolbild für einen schlechten Mensch und das war es auch schon.
Grundlegender Feminismus, where you at?
Das Buch lässt viele Gedanken übrig, die nicht so leicht einzusortieren sind. Die Rolle der Mutter ist so dermaßen zentral für alles, dass es schade ist, dass ihr keine eigene Perspektive zuteil wird. Alle beobachten und verurteilen sie. Der dabei (bewusst!) genutzte Ton ist von Anfang an einer, der ihr Schuld zuweist. Jetzt ist jede Person immer ein Produkt ihrer Umwelt und genau an diesem Punkt fehlt die Kritik an der Gesellschaft. Stattdessen wird missbilligend auf eine einzelne Frau herabgeblickt, mit der Zunge geschnalzt und insgeheim der Kopf geschüttelt. Warum? Weil es einfach ist. Und sehr falsch. Damit bekommt das Buch einen unguten Beigeschmack, was die Geschichte nicht schlecht macht, aber eben mehr Kontext fordert. Ein Autor von der Qualität Gurnahs sollte das liefern können.
Warum sollte man das Buch denn jetzt lesen?
Wegen Salims Perspektive. Er ist das Kind auf der Reise, das nicht nur eine emotionale Welt entdeckt, sondern auch eine physische. Er befreit sich von einigen anerzogenen Verhaltensmustern und reflektiert sehr viel. Als Außenstehender der europäischen Welt hält er uns den Spiegel vor mit Gedankengängen, die man sich sehr wohl zu Gemüte führen kann. Auch der Blick auf die kapitalistische Arbeitswelt kommt nicht zu kurz und lädt gerade jüngere Generationen zum Reflektieren ein.
Abdulrazak Gurnah. Das versteinerte Herz.
penguin. 26 Euro.