Mary hat ein magisches Talent: Schlösser knacken, indem sie einfach ihre Hand auf selbige legt. Ihre Schwester Moira hat ein anderes: Jeder mag sie einfach. Mary hat ihre Schwester schon lange nicht mehr gesehen, entsprechend sauer ist diese – und fordert Mary an ihrem Geburtstag emotional damit heraus, endlich die wertvolle Kette ihrer Mutter geschenkt bekommen zu haben. Die Kette ist das sehr wertvolle, weil letzte Erinnerungsstück, bevor die Mutter vor vielen Jahren einfach von der Bildfläche verschwand.
Es kommt, wie es kommen muss: Ein dummer Zufall sorgt dafür, dass genau diese Kette ausgerechnet in einen ungesicherten Brunnen fällt. Moira? Sauer. Mary? Schlechtes Gewissen und deswegen seilt sie sich in den Brunnen ab. Dort allerdings findet sie nicht einen kreisrunden Boden, sondern eine viel zu große Lichtung, wird von einem seltsamen Wesen angefallen und kann sich gerade noch zu einer nahe gelegenen Farm retten. Das Land ist grau, es herrscht die ewige Dämmerung und eigentlich ist das doch alles völlig unmöglich, oder? Ihre Reise führt Mary sogar bis zum Schloss einer anderen magisch begabten Person: Holle. Die allerdings nichts Gutes im Schilde führt und so bemerkt Mary, dass sie immer mehr vergisst, sogar ihre Schwester … Ein Zustand, dem sie sich entgegensetzt und das heißt leider: Gegen gefährliche Wesen, Menschen und vor allem Holle selbst ankämpfen!
Der Leseeindruck
Die Stimmung ist eine sehr seltsame. Seltsam kann richtig gut sein. Mary stellt sich zu Beginn natürlich ein wenig langsam denkend an, aber sie ist auch eine Figur, die mit der Realität zu tun haben möchte und wir sind Leser:innen auf der Suche nach fantastischen Abenteuern. Zumal die Welt, in der sie landet, der unseren zunächst ähnlich genug ist, um bei ihr anfangs für echte Verwirrung zu sorgen. Die Welt ist auf jeden Fall sehr düster und diese Stimmung wird gut eingefangen. Ob das nun verkrüppelte Äpfel sind oder die Menschen, die man sich als in grobe Stoffe gekleidet und gebückt laufend vorstellt. Oder die Bäume, die ohne grüne Blätter wie grau und verdorrt in einer ebenso kargen Umgebung stehen. Wer es haargenau nimmt, fragt sich natürlich, wie die Bestäubung stattfindet, weil außer Holle, Menschen und den Fressern kein Lebewesen erwähnt wird. Nicht einmal Katzen oder Haustiere. Vielleicht haben wir hier eine kleine Logiklücke gefunden, andererseits reden wir von einer magischen Welt, die andere Regeln als die unsere kennt.
Die Handlung schreitet schnell voran und fokussiert sich auf Mary, auch wenn die Zahl der menschlichen Kontakte immer wieder ansteigt. Sie gibt sich nicht zufrieden und treibt ihre eigne Geschichte voran, sodass wir mit ihr ständig in Bewegung sind und auf ein teils ungewisses Ziel zusteuern. Will sie nur Holle erledigen? Will sie den Brunnen finden und zurückkehren? Ganz eindeutig ist die Geschichte nicht und das tut der Erzählung in Sachen Spannung sehr gut.
Am Ende gibt es einen Plott-Twist, dessen Existenz man zwar vorausahnt, aber man sieht nicht kommen, welche Form es wirklich annehmen wird. Das ist sehr gut gelungen und wirft zeitgleich wieder mehr Fragen auf, wodurch die Spannung auf das Finale und die Auflösung der wahren Hintergründe gleich noch mal steigt.
In Sachen Interpretation ist es am Ende ist eine Geschichte, die relativ vordergründig stattfindet. Die wahren Dynamiken bleiben dahinter und beleuchten die Familiengeschichte von Mary und Moira – mehr soll aus Spoilergründen nicht verraten werden.
Wundervolles Gimmick ist natürlich der absolut sensationelle Farbschnitt, der super detailreich ist und sogar mit verschiedenen Effekten wie Aquarell prunkt.
Frau Holles Labyrinth. Stefanie Lasthaus.
18 Euro. Heyne.