In einem klapprigen Auto rauscht eine Familie lachend mitten durch die weite Wüstenlandschaft. Der Vater hält an und nimmt eine seiner Töchter, Jeannette, auf seine breiten Schultern. Sie treten an die Joshua Trees heran, die hier im Südosten Kaliforniens massenhaft zu finden sind. Der Vater erklärt Jeannette, wie die Bäume hier, wo es kaum Wasser gibt, überleben können. Cut. Die Kinder dieser Familie haben Hunger. Außer Butter und Zucker gibt es nichts – seit drei Tagen schon. Und der liebevolle, abenteuerlustige Vater, der seiner Tochter die Welt erklärt? Betrinkt sich, statt seinen Kindern Essen zu kaufen.
Eine Geschichte der extremen Gegensätze
Das Familiendrama „Schloss aus Glas“, das auf dem gleichnamigen autobiographischen Roman von Jeannette Walls basiert, erzählt eine Geschichte von Extremen. Jeannette Walls wuchs irgendwo zwischen Armut und Abenteuer auf, weitgehend ohne festen Wohnsitz, ohne reguläre Schulbildung – ohne Gewissheit.
Zu Beginn des Films ist Jeannette (Brie Larson) bereits eine junge Frau, die in New York ein Hochglanz-Leben als erfolgreiche Kolumnistin lebt. Dem Chaos ihrer Kindheit scheint sie entkommen zu sein – und doch will es sie nicht loslassen: Bei jedem Geschäftsessen ihres Verlobten (Max Greenfield als David) kommt irgendwann die Frage nach Jeannettes Herkunft auf. Die polierte Version, die sie der Öffentlichkeit erzählt, wird von Rückblenden kontrastiert. Nach Ausschnitten des Lebens in heruntergekommenen Häusern ohne Strom und Wasser erscheinen die Bilder der filmischen Gegenwart – Jeannette mit elegantem Kleid und teurem Schmuck in einem großen, sterilen Apartment Manhattans – geradezu skurril.
Neben diesen beiden sich gegenüberstehenden Kulissen, sind es vor allem emotionale Extreme, die den Film prägen: Jeannettes Eltern lieben und streiten sich. Mutter Rose Mary (Naomi Watts) setzt sich zeitweise für ein anderes Leben ein, kann aber ihren Mann nicht verlassen. Vater Rex (Woody Harrelson) ist unberechenbar: Harrelson gelingt es, beim Zuschauer einerseits den Hass zu schüren, den er in seiner Familie erzeugt, und andererseits in Rex′ besten Momenten als Vater so fürsorglich und liebevoll zu sein, dass man versteht, weshalb ihn Frau und Kinder trotzdem lieben.
Von wahren Begebenheiten und bewegenden Rollen
Der Film beruht auf dem autobiographischen Roman „Schloss aus Glas“ der etablierten US-Kolumnistin Jeannette Walls. Lange hütete Walls das Geheimnis ihrer wilde Kindheit am Rande der Gesellschaft, die vom Temperament ihrer Eltern bestimmt war. Als sie die Geschichte endlich niederschrieb, wurde das Buch schnell zum internationalen Bestseller. Sieben Jahre lang stand das ungewöhnliche Familien-Portrait auf den Bestsellerlisten der New York Times. In Deutschland wurde der Roman im Jahr 2006 veröffentlicht und bisher über 600.000 mal verkauft.
Als der amerikanische Regisseur Destin Daniel Cretton das Buch las, sah er die mitreißende Geschichte sofort auf der großen Kinoleinwand. Mit schwierigen Familienkonstellationen und extremen Emotionen ist er vertraut: Als Regisseur des hochgelobten Independent-Dramas „Short Term 12 – Stille Helden“ wurde er im Jahr 2013 bekannt. Bereits damals arbeitete er mit der Schauspielerin Brie Larson zusammen. Die Protagonistin von „Schloss aus Glas“ spielte die Hauptrolle des Dramas: die junge, emotional verstörte Grace, Sozialarbeiterin in einem Kinderheim.
Während „Short Term 12“ hauptsächlich Missbrauch in der Vergangenheit von Grace und Jugendlichen des Heims thematisiert, geht es in „Schloss aus Glas“ um die Spannung zwischen der Lust auf Abenteuer und dem Wunsch nach Sicherheit inmitten von Wunder und Enttäuschung, Liebe und Verantwortungslosigkeit. Es geht um – in Walls Worten – „alle Schönheit und Hässlichkeit meiner Kindheit“. Regisseur Cretton ist sich sicher, dass sich jeder mit der Geschichte identifizieren kann, der seiner Familie viel zu verdanken und viel vorzuwerfen hat.
Das Schloss der unerreichbaren Träume
Das Schloss aus Glas, das Buch und Film den Namen gegeben hat, ist ein Motiv, das Jeannettes gesamte Kindheit stark prägt. Ein großer Teil des wunderbaren Abenteuers, das diese Kindheit bestimmte, besteht aus Geschichten, Versprechungen und Träumen, die Vater Rex seinen Kindern erzählt. Der größte Traum, den er und seine Kinder gemeinsam träumen, ist das Schloss aus Glas: Jahrelang arbeitet Rex an Bauplänen für ein Glashaus, in dem jeder bekommen soll, was er sich wünscht.
Immer wieder fragt die kleine Jeannette: „Wirst du es wirklich bauen?“ Immer wieder beteuert ihr Vater: „Ja, das werde ich.“ Jedes Mal, wenn er und seine Familie an einen neuen Ort müssen, sagt er auch: „Dieses Mal wird alles anders.“ Das Schloss aus Glas ist und bleibt jedoch ein Luftschloss, das niemals Realität wird. Der große Traum von diesem Schloss ist eine Metapher, die Jeannettes Vater bestens beschreibt – mit den Gedanken bei Sternen, die unerreichbar sind, während in der vergessenen Realität nur knurrende Mägen und leere Taschen warten.
Die vier Jeannettes
Jeannette wird im Verlauf des Films von drei Darstellerinnen verkörpert. Die erwachsene Jeannette wird von der amerikanischen Oscar-Preisträgerin Brie Larson („Raum“) gespielt. Larson fand durch Gespräche und Mails mit der US-Kolumnistin Jeannette Walls Zugang zu ihrer Rolle. Dabei lernte Larson, dass Walls aus ihrer oft schwierigen Kindheit viel Positives mitgenommen hatte. „Jeannette hat irgendwann begriffen, dass ihre gesamte Jugend mit diesen Eltern sie zu dem Menschen gemacht hat, der sie ist“, sagt die Schauspielerin. „Nicht nur die guten Erfahrungen haben sie stark gemacht, sondern auch die schlechten.“ Diese Stärke ist im Film in allen Lebensphasen von Jeannette zu spüren. In New York wird diese Stärke teilweise zu erbitterter Verbissenheit, wenn Jeannette versucht, sich endgültig von ihrer Vergangenheit loszusagen. Larson spielt die Rolle der gesellschaftlich angepassten, zugeknöpften Jeannette überzeugend – lässt aber in genau den richtigen Momenten die Wildheit ihrer Kindheit aufblitzen.
In den Rückblenden spielt Chandler Head Jeannette als kleines Kind, während die elfjährige Ella Anderson die neunjährige Jeannette verkörpert. An diesem Punkt beginnt das Mädchen allmählich, gegen die Lebensweise ihrer Eltern zu rebellieren und gleichzeitig immer wieder ein Fels in der Brandung für ihren Vater zu sein. Anderson spielt ein Kind, das ihren Vater anhimmelt – aber langsam begreift, das seine Geschichten immer Geschichten bleiben werden. Sie wird erwachsen – viel erwachsener als ihre Eltern. Anderson ist bereits seit ihrem fünften Lebensjahr mit der Schauspielerei vertraut – und das merkt man im Film. Sie spielt insbesondere ernste Szenen mit beeindruckendem Einfühlungsvermögen. Wenn die kleine Jeannette ihren Vater bittet, mit dem Trinken aufzuhören, oder ihrer Mutter unverblümt mitteilt, dass sie ihren Mann verlassen muss, weil er sich nie ändern wird, sieht man in Jeannette wie auch in Anderson ein Kind, das seinem Alter weit voraus ist.
Vom Loslassen und Frieden schließen
Die erwachsene Jeannette lebt in der Großstadt das perfekte Leben: Sie verbringt ihre Abende in teuren Restaurants, während jede Strähne ihres Haares makellos sitzt. Den Tag über schreibt sie nach eigener Aussage Kolumnen für reiche, alte Damen. Sie ist erfolgreich, ja – aber sie wirkt dabei wie ein eingesperrter Vogel im goldenen Käfig. So viele Fehler ihr Vater Rex auch haben mag, so verantwortungslos und unberechenbar der alkoholkranke Mann auch ist, man möchte ihm zustimmen, wenn er Jeannette sagt: Dein Leben ist langweilig.
Man versteht, weshalb Jeannettes Alltag zu dem wurde, was er ist. Es ist ein Muster, das man kennt: Söhne und Töchter von konformen Business-Eltern streben oft einen gegensätzlichen Lebensstil an. Söhne und Töchter solcher Freigeister und Abenteurer sehnen sich jedoch im Gegenzug nach Stabilität und Sicherheit – und werden „langweilige“ Business-Eltern. In Jeannettes krampfhaftem Versuch, extremes Chaos durch extreme Ordnung zu ersetzen, hat sie sich ein Stück weit selbst verloren. Jeannettes Geschichte ist deshalb auch eine vom Loslassen und Frieden schließen: Erst als sich die Journalistin am Ende des Films zu ihrer Kindheit bekennt, sich mit Vater Rex aussöhnt und ihren durchgetakteten Lebensstil ein klein wenig lockert, sieht sie tatsächlich glücklich aus.
Autorin: Silvia Schilling
THE GLASS CASTLE – SCHLOSS AUS GLAS
Regie: Destin Daniel Cretton
Darsteller: Brie Larson, Naomi Watts, Woody Harrelson
Drehbuch: Destin Daniel Cretton und Andrew Lanham nach dem Roman von Jeannette Walls
FSK: ab 12 Jahren
Dauer: 127 Minuten
Kinostart: 21. September 2017
Im Verleih von Studiocanal