Stand Mitte Februar hat der Winter uns wieder fest in seinem Griff – nichts mit Sonnenschein und allmählich wachsendem Unkraut. Das Gute an der Situation: Wir können uns bequem noch eine Runde in den Sessel verkrümeln und die Nase in Bücher stecken, die sonst dem drohenden Frühjahrsputz und der Zeit, die man für ihn braucht, zum Opfer fallen würden.
Setzt eure Masken ab!
Andrea sitzt einsam und allein auf ihrer Couch im Wohnzimmer, in dem sonst nur die Einrichtungsgegenstände übrig sind, die ihr Mann beim Auszug nicht mitgenommen hat. Sie haben sich getrennt, doch mit ihrer Affaire ist sie langfristig nicht glücklich geworden: Er hat sie zur Abtreibung des gemeinsamen Kindes gezwungen und sie merkt immer mehr, dass sie mit dieser Entscheidung langfristig nicht klar kommt. Genausowenig mit der Einsamkeit und der Stärke, die sie der Gesellschaft gegenüber heucheln muss – oder denkt, heucheln zu müssen. Es ist ein Teufelskreis aus Masken, den sie mit ihrer Umwelt spielt – bis es fast zu spät ist und sie bereit wäre, einen Mord zu begehen.
Das Buch erschien das erste Mal 1985 und hat in seiner Aktualität nichts, aber auch gar nichts eingebüst. Das Thema Kind und Karriere, noch dazu als alleinerziehende Mutter werden jetzt immer noch kontrovers diskutiert und der moralische Druck auf Mütter insgesamt ist ungebrochen. Noch dazu das Thema des Versteckens, des sich hinter einer Maske Verbergens, um möglichst wenig verletzt zu werden. Wie weit das zwei Menschen treiben kann, die ihr Leben auf einem fortwährenden Maskenball verbringen, erlebt man in diesem Buch. An sich hätte die Geschichte von Andrea und Josef ganz einfach und sehr glücklich werden können, doch nur Vermutungen und „Schutzhandlungen“ à la Teenager machen es zu einer Vollkatastrophe. Die Aktualität des Themas stellt allerdings auch sicher, dass man sich nach dem holprigen Anfang sehr schnell in die Geschichte einfühlen kann.
Sehr kunstvoll ist die Verstrickung der Verdi Oper „Un Ballo In Maschera“, die an sich schon eine maskierte Geschichte darstellt, sich mit den maskiert lebenden Hauptprotagonisten vermischt und auch noch selbst als Drehbuch für einen Film in der Geschichte selbst auftaucht. Das klingt anstrengender, als es im Buch tatsächlich ist – nach den ersten komplizierten Sätzen wird der Schreibstil schnell verständlicher und man taucht ein in die Gedanken von Andrea, die genauso gut in diesem Jahr leben könnte.
Eine kurze Erzählung, die etwas anspruchsvoller ist, viel Diskussionsstoff bietet und sich daher für einen eiskalten Nachmittag im Frühjahr perfekt eignet!
Übrigens: Das Buch gehört zu rowohlt repertoire, einer „Aktion“, die vergriffene Bücher wieder zugänglich macht. Daher bitte nicht wundern, dass der Maskenball in seiner ursprünglichen Schreibweise (alte Rechtschreibung) veröffentlicht wurde
Maria Scherer. Maskenball.
rowohlt repertoire. 12,99 Euro.
„Liebe ist nicht für jeden Tag“
Eine ebenfalls ältere Geschichte ist „Der Engel mit der Posaune“ – das Buch erschien nicht nur schon 1946, sondern wurde ebenso früh (1948) bereits verfilmt. Hier gibt’s ihn auf Youtube für alle, die kurz reinspitzen möchten, bevor sie das Buch lesen – und das sollten sie!
Das Buch beginnt 1888 mit der Verlobung von Franz Alt, Mitglied einer renommierten Familie von Klavierbauern. Er beabsichtigt, Henriette Stein zu ehelichen, doch weil sie mit dem Kronprinzen in Verbindung gebracht wird, gibt es Zweifel an ihrer „Eignung“ als Braut. Die Gerüchte sind wahr und Henriette in Wirklichkeit in den Kronprinz Rudolf verliebt. Doch die Hochzeit findet statt, wobei relativ zeitgleich der Kronprinz verstirbt. Henriette fügt sich ihrer Ehe – zunächst. Denn über die Zeit wird immer deutlicher, dass es keine Liebesheirat war und Henriette emotional ziemlich unruhig ist. Die Geschichte geht weiter bis zum Ersten Weltkrieg bis hin zum Auftakt der Zweiten Weltkriegs. Dabei rückt die Generation in den Fokus: Hans und Herrmann, Henriettes Söhne, entwickeln sich recht gegensätzlich und zu ihrem absoluten Erschrecken muss sie feststellen, dass einer der beiden sich politisch mit Hitler verbündet …
Das Buch steigt mit vielen Personenbeschreibungen und Namen ein, die einerseits das Spielbrett der nächsten Jahrzehnte bilden, andererseits aber schon sehr zahlreich sind. Da das Buch allerdings aus einer sehr zeitgenössischen Perspektive geschrieben wurde, ist es kein „historischer Roman“, der von Moderne geprägt über Geschichte berichtet – sondern vielmehr ein Abbild der Gedankenwelt und Kultur aus dem Österreich der damaligen Zeit. Vielleicht fällt es manchem deswegen ein wenig schwerer, sich in das Buch hineinzufinden. Lothars persönliche Einsicht in die Zeit erweist sich jedoch als unschätzbares Gut für Entwicklung der Geschichte und ihrer Charaktere, die sehr glaubwürdig auftreten. Ihre Emotionen liegen für den Leser so offen dar, wie es in der Realität damals wahrscheinlich eher weniger der Fall gewesen wäre. Es wird turbulent!
Auch vom historischen Hintergrund her ist der Zeitpunkt sehr gut gewählt: Von einer Kaiser-zentrierten Regierung wandelt das Land sich permanent und durchläuft seine wohl tiefste Änderung. Zunächst durch die Schwächung des Kaisers im Spannungsfeld erstarkende Wirtschaft und Regierung, dann die Ermordung des Thronfolgerpaares bis hin zum Anschluss an Nazi-Deutschland. Das sind alles Änderungen auf hohem Level, die sich im Alltag der geschilderten Personen unmittelbar auswirken und so den Leser vollends in seinem Bann halten.
Ein Buch, das man getrost mehrfach lesen sollte!
Ernst Lothar. Der Engel mit der Posaune.
btb. 12,00 Euro.
Ein Leben am psychischen Abgrund
Antoine lebt in einer kleinen französischen Stadt, in der er bei seiner früh alleinerziehenden Mutter heranwächst. Seine Freunde kommen aus der gleichen Stadt und das Leben ist recht überschaubar. Seine erste Jugendliebe dämmert vor sich hin und entwickelt sich wenig erfolgsversprechend. Sein Vater schickt immer die flaschen Geschenke, ansonsten haben sie keinen Kontakt. Hier passiert selten etwas – bis eines Tages der kleine Rémi verschwindet und nur Antoine weiß, dass er niemals zurückkehren wird. Seine Leiche liegt im Wald in einer Grube und Antoines Leben gerät völlig aus den Fugen. Erst versucht er, sich sein eigenes zu nehmen, dann entwickelt er unterbewusst eine Überlebensstrategie: Ausharren, nichts sagen, nicht auffallen. Doch was bleibt, ist seine Angst vor der Entdeckung.
Die Geschichte erinnert an einen der aktuell typischen Krimiserien aus England: Vor Jahren verschwand ein Junge, nun wurde seine Leiche gefunden und die Ermittlungen beginnen erneut. Pierre Lemaitre gibt dem ganzen eine neue Perspektive, indem er die Geschichte von vorne und ab da chronologisch erzählt. Bei ihm geht es nicht um die Ermittlung an sich, sondern was das Verbrechen oder der Unfall mit einem Menschen macht, der selbst noch nicht ganz ausgereift war. Er spielt gekonnt mit der Opfer- und Täterrolle und am Ende weiß der Leser immer noch nicht, ob Antoine nun wirklich ein Mörder ist oder „feige“, weil schweigsam. So simpel die Situation ist, so komplex ist die Schuldfrage, die der Autor nicht einmal explizit stellen muss. Die Gedanken des Lesers verselbstsändigen sich zu dem Thema und fließen in den weiteren Verlauf der Geschichte ein – das ist hohe Handwerkskunst seitens des Autors.
Zum Schluss gibt es noch einmal eine kleine Kette an Offenbarungen, die dann erst zeigen, wie emotional tiefgehend sich die Geschichte wirklich abgespielt hat, welche Auswirkungen der Moment im Wald es nicht nur auf Antoines Leben hatte.
Sehr positiv ist außerdem, dass das Buch zeigt, dass Literatur nicht kompliziert sein muss. Weder von der Schreibweise her noch vom Inhalt. Anspruch hat nichts mit Unverständlichkeit zu tun – wenn das mehr Autoren beachten würden, würden sicherlich mehr Menschen wieder zu Literatur greifen, anstatt einfallslosen Liebesschnulzen. Sehr kurzweilige und ansprechende Unterhaltung!
Pierre Lemaitre. Drei Tage und ein Leben.
Klett-Cotta. 20,00 Euro.
Bettina Riedel (academicworld.net)