Die Kindergeschichte „Der Zauberer von Oz“ ist legendär – und doch nur eine Seite der Medaille. Hat die Böse Hexe des Westens wirklich Wölfe auf Dorothy gehetzt, um sie zu töten? Warum wollte der Zauberer von Oz sie, die grüne Schwester der Bösen Hexe des Ostens, überhaupt tot sehen? War er wirklich ein weiser Mann?
Gregory Maguire rollt die Geschichte ganz von Anfang an auf: Elphaba wird als Tochter eines Predigers und einer gelangweilten Tochter der wohlhabenden Familie Thropp geboren. Ihre Eltern kommen Zeit ihres Lebens nicht auf ihre grüne Haut klar, sodass Elphaba, auch Fabala genannt, eine eher unamüsante Kindheit verlebt. Noch als sie jung ist, zieht die Familie in ein unwirtliches Eck in Oz und Elphaba wird von ihrem Vater für seine Bekehrungsversuche der Quadlinger benutzt – denn wenn der Namenlose Gott sie lieben kann, mussten die Quadlinger doch noch viel besser als sie dastehen, oder etwa nicht? Kein Wunder, dass die kleine Elphie sehr zurückhaltend wird und mit den anderen nicht viel anfangen kann.
Im Kampf gegen die Entwürdigung
Doch sie erzieht sich selbst und schafft den Absprung: Sie kann nach Shiz umziehen und an das Grattler-Kolleg gehen. Dort trifft sie eine reichlich bornierte Galinda, die mit ihr eine Stube beziehen muss. Gegensätzlicher könnten sie beide nicht sein, doch eines ist klar: Elphie hat den besseren moralischen Kompass, gibt spitzfindigere Kommentare ab und hat trotzdem ein gutes Herz.
Als der Zauberer die Macht übernimmt, schränkt er die Bewegungsfreiheiten der TIERE ein, die sich durch emotionale Intelligenz und andere Fähigkeiten wie das Sprechen von Tieren unterscheiden. Als ihr Lehrbeauftragter, Professor Dillamond, wegen seiner Forschungen in diesem Thema brutal ermordet wird, benennt sich Galinda in Glinda um und Elphie geht in den Untergrund – sie kämpft lieber als Aktivistin für die Rechte der TIERE. Dieser Schritt der Abkapselung führt zum nächsten, bis sie nach einigen Jahrzehnten völlig auf sich allein gestellt lebt. Aber ach – sie hat ja noch das Ämmchen, Liir und die geflügelten Affen. Zusammen mit ihren Kompagnons versucht sie ein einigermaßen gutes Leben zu führen. Und dann? Dann kommt diese Dorothy daher, die bei ihrer Ankunft in Oz einfach Elphies Schwester getötet hat.
Mehr Tiefe, ein anderes Zielpublikum
Nachdem das Musical, das auf dem Buch basiert, mittlerweile ebenso bekannt ist wie die Kindergeschichte, eine kurze Anmerkung vorab: Der Zauberer von Oz ist eine schnuckelige Kindergeschichte – WICKED ist es nicht. Die Erzählweise ist prägnanter, weniger verspielt, anspruchsvoller und deutlich für ein erwachseneres Publikum gemacht. Genauso die Inhalte, die von Mord bis körperliche Liebe bis Gen-Experimente, moralisches und persönliches Scheitern sowie das Hadern mit Göttern alles aufs Tablett bringen.
Außerdem nimmt der Autor das Schachbrett „Oz“ und wirbelt die Perspektiven einmal gehörig durcheinander: In seiner Version wird aus der Kindergeschichte eine sehr traurige, die durch Missverständnisse geprägt ist und auch die Motive des Originals in Frage stellt: War das so alles überhaupt nötig? Warum „mussten“ die Dinge so kommen, wie sie es letztlich taten? Hätte eine bewusste Entscheidung, die anfangs anders getroffen worden wäre, wirklich so tiefgreifende Unterschiede für sämtliche Beteiligte bedeutet? Vermutlich ja. Zumindest zeichnet der Autor das Bild einer von ihrer unmittelbaren Gesellschaft beeinflussten Frau, die von genau dieser abgelehnt wurde und sich so ihrer Verantwortung entzogen hat. Einer Hexe, die dennoch an das Gute geglaubt hat, halt nur nicht in Bezug auf sich. Das Ende ist leider vordiktiert durch die Kindergeschichte, ansonsten hätte hier mit Sicherheit noch mal 500 Seiten lang eine weiterhin spannende Geschichte erzählt werden können.
Übrigens: Man muss die Vorgeschichte nicht kennen, um das Buch zu verstehen – im Gegenteil, so kann man das Ende ganz unvoreingenommen genießen. Abgesehen davon, dass es eben in der Schreibweise und hinsichtlich der Art, wie Inhalte angesprochen werden, große Unterschiede gibt. Wer ein zweites „Der Zauberer von Oz“ erwartet, findet die erwachsene Betrachtung der Vorgeschichte vor, die zum nachdenken anregt und sich absolut traumhaft und intensiv liest.
Insgesamt geht es nicht nur um Elphaba, sondern auch sehr detailliert um die Gesellschaft in Oz, die natürlich als Sinnbild für die unsere fungiert. Boq beispielsweise mag eine Person sein, die streng genommen wenig mit der eigentlichen handlung zu tun hat. Am Ende jedoch dient er als das klassische Beispiel aus der Mittelschicht: Politisch gesehen ein bisschen das Fähnchen im Wind. Hauptsache, niemand klaut einem das Brot vom Teller. Das nur als kleines Beispiel, das hoffentlich nicht als Spoiler ausgelegt wird. Jede Aussage, die Gregory Maguire trifft, mag nicht die Böse Hexe des Westens betreffen, sondern schlichtweg alle anderen und den Leser selbst auch.
Bettina Riedel (academicworld.net)
Gregory Maguire. Wicked – die Hexen von Oz.
Die Hobbitpresse. 13,00 Euro.