Irina M. (27) aus Frankfurt schreibt uns: Ich bin kein direkter Berufseinsteiger mehr, sondern seit 13 Monaten in meinem ersten Job. Mein Arbeitgeber ist ein großes Unternehmen und das Renommee der Firma war für mich auch entscheidend, dort anzufangen. Jetzt hat sich aber deutliche Ernüchterung breit gemacht. Denn es geht nicht mehr um die Aufgaben, sondern darum, sich intern permanent abzusichern. Überall müssen Reports vorgelegt werden, für jede Nichtigkeit werden 20 Kollegen in cc. gesetzt. Ich habe das Gefühl, dass meine Eigeninitiative verkümmert und ich langsam eine gewisse Beamtenmentalität an den Tag lege. Mehrere erfahrene Kollegen meinten jetzt, die Praxis der ineffizienten Überkommunikation sei generelles Markenzeichen der Großkonzerne. Würde dies stimmen, müsste ich mich ganz neu orientieren. Können Sie diese „Absicherungskultur“ in den Großkonzernen als Standard bestätigen? Und: Kann man im Vorfeld Unternehmenskulturen in Erfahrung bringen, bevor man einem Arbeitgeber zusagt?
- Die Frage wird von dem Personalexperten Dr. Mell beantwortet:
Grundsätzlich ist eine Enttäuschung nach ein bis zwei Jahren beim ersten Arbeitgeber normal. Nicht zuletzt deshalb tolerieren Bewerbungsempfänger bei jungen Akademikern einen ersten Arbeitgeberwechsel nach etwa zwei bis drei Jahren, während sonst etwa fünf Jahre pro Arbeitgeber im Durchschnitt empfohlen werden.
Ein Teil Ihrer Unzufriedenheit dürfte auf den „Praxisschock“ zurückgehen, den Berufsanfänger häufig erleiden. Hintergrund ist unter anderem, dass die akademische Ausbildung in sehr vielen Wirtschaftsbereichen nicht besonders eng mit der beruflichen Praxis verzahnt ist. Diese Praxis stellt für den jungen Menschen eine ganz neue Welt mit eigenen Regeln und Vorschriften dar, auf die ihn seine Ausbildung höchst unvollkommen bis gar nicht vorbereitet hat. Je nach persönlichen Gegebenheiten, Temperament und Mentalität wird der junge Berufseinsteiger unterschiedlich mit den über ihn hereinbrechenden neuen Eindrücken fertig.
In Ihrem Fall sind zwei Ursachen denkbar:
a) Sie reagieren vielleicht überdurchschnittlich sensibel auf die Umstellung von der stark theoretisch geprägten Studienausbildung auf die Praxis. Vergleichen Sie Ihre Empfindungen mit denen ehemaliger Kommilitonen und mit denen heutiger Kollegen. Wenn Sie feststellen, dass die Mehrheit der anderen (Vergleichspersonen) weniger empfindlich reagiert, müssen Sie die Ursache bei sich suchen. Dann ist Gelassenheit angesagt.
b) Ein Teil dessen, was Sie als typisch für Ihr Unternehmen beschreiben, kennzeichnet tatsächlich den Arbeitsstil sehr vieler Großbetriebe. Als Anregung dabei: Vermeiden Sie im Sprachgebrauch den Ausdruck „Beamtenmentalität“. Er wird von mehreren Berufsgruppen gleichzeitig als Beleidigung empfunden, natürlich auch von den Beamten. Es gibt einen Menschentyp, der sich ganz klar nicht für die nach strengen Regeln und Gepflogenheiten ablaufende Arbeit in den Großbetrieben eignet und der viel besser in die jeweils völlig anders strukturierten Mittelstandsunternehmen passt. Sie könnten natürlich ein solcher Typ sein.
Empfehlung: Seien Sie mit einem vorzeitigen Stellenwechsel, der sich tief in Ihren Lebenslauf „einfrisst“, sehr vorsichtig, solange Sie nicht wissen, ob der Wechsel in einen Mittelstandsbetrieb tatsächlich für Sie die Lösung bringt. Es gibt Menschen, die nach einem solchen Wechsel mit den dort auch existierenden, nur anderen Regeln und Gepflogenheiten nicht zurechtkommen. Wenn dies der Fall ist, kann man erfahrungsgemäß im Großbetrieb immer noch leichter „überleben“, indem man sich unauffällig verhält und erst einmal anpasst.
Zum Schluss Ihrer Frage: Nein, man kann aus der Sicht eines Bewerbers im Vorfeld Details der Unternehmenskultur im hier angesprochenen Rahmen nicht mit Sicherheit in Erfahrung bringen.
Bedenken Sie bitte auch: Zu unserem größten Automobilkonzern gehören weltweit etwa 500.000 Arbeitnehmer. Wenn die mit dem Stil des typischen Großkonzerns zurechtkommen, Sie jedoch nicht, sollten Sie Ihre Einstellung noch einmal überprüfen, bevor Sie übereilte Schritte unternehmen. Und: Sie sind abhängig beschäftigt, Abhängigkeit zu Idealbedingungen ist Illusion.
Dr.-Ing. E. h. Heiko Mell ist Wirtschaftsingenieur und heute geschäftsführender Gesellschafter der Personalberatung Heiko Mell & Co GmbH in Rösrath. Er hält Vorlesungen und Vorträge über „Spielregeln für Beruf und Karriere“, hat mehrere Bücher geschrieben und ist seit 1984 Autor der „Karriereberatung“ in den VDI nachrichten.