Patricia ist gerade einmal 24, als ihr Mann sie verlässt. Fortan kämpft sie um ihre Beziehung, aber scheitert kollossal. Ihr neues Leben sieht enorm viel Freiheit vor, der sie sich stückweise überlässt wie ein Ast im überschwemmten Flussbett. Nächtelang unterwegs sein, immer wieder neue Menschen kennenlernen, so viele Kleider kaufen, wie sie möchte – und doch ist sie nicht glücklich. Sie lässt sich treiben, hat keine Ziele und weiß einfach nicht wohin mit sich selbst. Doch zum Glück lässt ihre Stadt sie nicht im Stich: New York in den 20er Jahren ist wohl das einzige, was ein trauriges Schicksal positiv prägen kann!
Anmerkung zum Kontext
Ein Buch zu rezensieren, das vor knapp 100 Jahren geschrieben und veröffentlicht wurde, hat immer etwas … Überflüssiges. Warum? Das Buch ist alt. Die Sozialisierung der Autorin fand vor 100 Jahren statt. Was damals provokant und frisch war, wird heute als ‚immer noch problematisch‘ eingestuft, weil Vorurteile, Diskriminierung und mehr reproduziert werden – man kann das Buch gar nicht nach den Standards beurteilen, die man an heutige Text stellen würde. Stattdessen wollen wir euch etwas über die Leseeindrücke erzählen.
Besonders auffällig…
… ist die emotionale Distanz. Da wird mit einer extrem reduzierten Sichtweise erzählt, wie ein Mann eine Frau durch eine Glastür wirft – anstatt sie zu töten, wie nett von ihm. Da stirbt ein wenige Wochen altes Baby, der Vater zuckt mit den Schultern und die Mutter reagiert auch nicht nennenswert und ist angeblich bald darüber hinweg. Dazu eine Abtreibung, die spontan beschlossen und ohne Federlesens durchgeführt wird. Kein „Was wär wenn“, keine Nähe, keine Gefühle, die zerbrechen. Hier passieren große Dinge, die Schicksale ändern und die Statisten fühlen – nichts?
Was sagt uns diese geradezu extreme Sichtweise? Sie schockiert. Sie schockiert, weil es etwas sein sollte, bei dem man aufgewühlt wird, mental aufspringt, im Falle der körperlichen Gewalt einschreiten möchte, „nein“ ruft oder eine andersartige (emotionale) Reaktion haben sollte. Niemand in diesem Buch hat sie, also sollen und müssen wir sie haben. Die Reduzierung zeigt auch unmissverständlich und schonungslos, womit Frauen haben zurechtkommen müssen. Wenn wir nun so schockiert reagieren, wie kann es dann gesellschaftlich akzeptiert sein? Diesmal bewusster Einsatz des Präsens mit Blick auf die steigende Gewalt gegenüber Frauen. Insofern hat das Buch auch heute noch eine gewisse Relevanz.
Die Distanz zieht sich durch das ganze Buch. Warum sie so an ihrem Ex-Mann festhält? Das weiß sie selbst nicht. Aus moderner Sicht gehören beide in Therapie und dürfen Kommunikation lernen. Interpretieren kann man natürlich das Sehnen nach Stabilität: Den Mann kennt sie, mit dem kann sie umgehen und wie verheiratetes Leben geht, weiß sie auch. Was sie nicht weiß: Wie ihre Zukunft als Ex-Wife weitergeht. Unsicherheit, keine Erfahrung im Umgang mit Wahlfreiheit und wo sie selbst im Großen und Ganzen steht. Sie findet männliche Freunde und geht mit ihnen die Optionen für deren Leben durch, zu denen beispielsweise große Reisen zählen. Kommt sie je selbst auf die Idee, etwa nach Europa zu fliegen? Niemals. Es wurde ihr nie offenbart und wie ein Gewohnheitstier möchte sie zurück in den sicheren Hafen, der Ansprüche an sie klarstellt und die Unsicherheit eliminiert. Wieder ist die Rolle der Lesenden, sich zu wundern – und für sich persönlich vielleicht eine ganz andere Entscheidung zu treffen, was für damalige Verhältnisse durchaus gewagt war!
„Die neue Freiheit …
… kommt zu spät um den alten Salon zu retten.“ In einer Zeit, in der Frauen als ultimatives Ziel die Heirat und das Dasein als Stay at Home Mom anerzogen wird, finden sich unsere Protagonistinnen in einer völlig seltsamen Situation wieder: Freiheit. Niemand stellt den Anspruch an sie, jung zu heiraten (schon erledigt). Niemand sagt, die müssen Mutter werden (schon passiert). Sie müssen für keinen Mann sorgen, nur sich selbst (interessiert niemanden). Was stellt man mit so einem angebrochenen Leben an, was macht das aus der eigenen Perspektive? Karriere galt für Frauen als verpönt oder es gab keine Strukturen hierfür. Sie hatten Aushilfsjobs, die nur temporär angelegt werden – bis zur Hochzeit natürlich. Und so, wie die Damen wenig bis nichts mit sich anzufangen wissen, wusste es die Gesellschaft damals auch nicht. Man hat sich also arrangiert: Ex-Frauen wurden eine eigene Kategorie. Man konnte Spaß haben und mit ihnen gesehen werden, weil man keinen jungfräulichen Ruf ruinieren konnte. Sie verdienten ihr eigenes Geld und niemand außer ihnen bestimmte darüber, wie sie es ausgeben sollten oder nahm es ihnen weg. Zeitgleich musste Mann sie nicht querfinanzieren.
Das Fazit
Sehr spannend, trotz geringer Emotion wahnsinnig intensiv und parallel ein zutiefst trauriger Zeitzeuge, der in Teilen an Aktualität nichts eingebüßt hat – rund 100 Jahre später.
Ursula Parrott. EX-WIFE.
Fischer Verlage. 24 Euro.