Eigentlich möchte Jack Reacher nur kurz seine wenigen Kleidungsstücke durch die Wäsche ziehen, bevor er die Stadt verlässt und weiter durch die USA reist. Einer anderen Kundin des Waschsalons fällt die Krücke auf den Boden – nett, wie er ist, hebt er sie ihr natürlich auf. Das allerdings im absolut ungünstigsten Zeitpunkt: Drei Männer stehen vor dem ungleichen Paar und und möchten die Frau – Holly – entführen. Jack steht im Weg und wird daher gleich mitgenommen. So finden sich Holly und Jack plötzlich im Laderaum eines weißen Lieferwagens wieder und treten eine lange Reise ins Ungewisse an. Jack – typisch – will sich das nicht einfach gefallen lassen und ermittelt notgedrungen auf eigene Faust. Er findet heraus, dass Holly nicht nur eine FBI-Agentin ist, sondern auch noch die Tochter eines der wichtigsten Generäle in den USA. Doch das passt alles nicht mit der Entführung und den Tätern zusammen, die Jack Stück für Stück mit unter die Lupe nimmt. Letztendlich kommen die beiden in einem Lager im Wald an, bei dem extreme politische Spannungen herrschen – und die Bewohner dort denken, Holly ist der Schlüssel zu ihrer Freiheit. Die Puzzleteile scheinen sich zu einem Bild zu fügen, aber Jack ist nicht überzeugt: Hier geht etwas größeres und weit schrecklicheres vor sich …
Die Kritik
Zu „Ausgeliefert“ muss als Erstes gesagt werden, dass dies ursprünglich Band 2 der gesamten Jack Reacher-Reihe war und ist. Dass das Buch das erste Mal 1998 veröffentlicht wurde, sollte bei der Beurteilung mit berücksichtigt werden. Insofern fällt zunächst auf, dass die Person Jack Reacher aus Sicht des Autors damals noch nicht so weit entwickelt war, wie sie es heute ist. Er wirkt noch etwas unpersönlicher, weniger greifbar. Dafür mehr der typische, amerikanische Held: hart im Nehmen, still, groß, gutaussehend, hilft der Dame in Not. Genauso verhält es sich mit der zarten Liebesgeschichte, die hier abläuft oder auch nicht – man ist sich bis zuletzt nicht ganz sicher. Wer andere Reacher-Bücher gelesen hat, erkennt die Entwicklung, die der Autor seither hingelegt hat.
Dazu gehört, dass weit ausschweifende Beschreibungen nicht mehr so oft auftreten, wie es in „Ausgeliefert“ leider noch vorkommt. Hier ist etwas Geduld seitens des Lesers gefordert. Positiv ist die Linie zu bewerten, die Lee Child offenbar von jeher verfolgt: Ein interessantes Setting, das den Leser wie durch ein Schlüsselloch lugen lässt. Stück für Stück wird er/sie mit weiteren Informationen gefüttert, sodass sich immer mehr Licht durch das Schlüsslloch auf den erzählerischen Boden ergießt. Anders gesagt: Man muss schlichtweg bis zum Ende lesen und darf kein Kapitel auslassen, weil man sonst was verpasst hat. Klug gemacht!
Was Lee Child von gängigen Thrillern unterscheidet, ist die herrliche Unaufgeregtheit, mit der er seinen Protagonisten ins Rennen schickt. Da gibt es keine hochdramatischen Psychokiller, sondern einen mit der Gesellschaft verknüpften Hintergrund, der durch eine simpel gehaltene Hauptperson mit dem Leser verknüpft wird. Teilweise mit überraschend akuraten Voraussagen zu technologischen Entwicklungen, frei nach dem Motto „Die Regierung wird alle Menschen zwingen, einen Peilsender mit sich herumzutragen, oh nein!“ Was wir mit unseren Smartphones jetzt durchaus freiwillig machen. Das regt gleichzeitig ein wenig zum Nachdenken an.
Fazit: Definitiv nicht der beste Jack Reacher, aber für Fans der Reihe durchaus ein interessanter Rückblick auf die frühen Wanderjahre des Ermittlers wider Willen.
Bettina Riedel (academicworld.net)
Lee Child. AUSGELIEFERT.
blanvalet. 10,99 Euro.