Malte B. (26) aus Bonn schreibt uns: “Ich bin Ingenieur und arbeite in der Automobilindustrie. Bei aller Bescheidenheit bin ich meinen Traineekollegen fachlich weit überlegen. Ich habe bereits in den ersten Monaten technische Lösungsvorschläge erarbeitet, die direkt umgesetzt worden sind. Da bei uns Teamarbeit großgeschrieben wird, präsentieren wir unsere Arbeiten jedoch immer in der Gruppe. Da ich es unangenehm finde, im Mittelpunkt zu stehen, übernehmen die ‘Show-Typen’ die Präsentation meiner Arbeiten. Leider sammeln sie dann auch die Lorbeeren ein. Reicht nicht die fachliche Kompetenz, muss man auch ein ‘Show-Typ’ sein, um Karriere zu machen? Und wenn ja, wie wird man so?“
Der Personalexperte Dr. Mell nimmt Stellung zu dieser Frage:
„Es gibt mehrere Möglichkeiten, um mit einiger Sicherheit im beruflichen Bereich Ärger zu bekommen. Sie haben eine davon gewählt:
Ihr Gefühl, den Kollegen ‘fachlich weit überlegen’ zu sein, ist hochgradig gefährlich. Zunächst einmal ist völlig klar, dass Mitmenschen aller Art jemanden hassen, verachten und engagiert bekämpfen werden, der so denkt. Was meinen Sie, wie lange Ihre Kollegen brauchen, um Ihre Einstellung zu bemerken? Höchstens Wochen, eventuell nur Tage, verlassen Sie sich darauf. Und dann haben Sie Feinde.
Damit funktioniert das Team nicht mehr, das unter besonderer Beobachtung steht. Die erfahrenen Betreuer des Traineeprogramms erkennen schnell Sie als den Kernpunkt allen Ärgers. Das ist nicht gut für Ihre weitere Zukunft im Unternehmen.
Natürlich ist in jedem Team tatsächlich immer einer der Beste. Aber Universalgenies sind extrem selten, Überlegenheit betrifft immer nur einzelne Eigenschaften und Fähigkeiten, kaum je alle. Ihnen als Trainees gibt man sorgfältig vorbereitete und überlegte ‘Übungsaufgaben’. Darunter sind zwar auch echte betriebliche Probleme, aber stets solche, die man jungen Berufsanfängern zumuten kann. Im weiteren Verlauf des Programms sind für Sie anders fordernde Aufgaben denkbar – die dann Kollegen mit anderen Begabungen weiter nach vorne bringen.
Es ist also viel zu früh und sachlich noch völlig ungerechtfertigt, jetzt schon so zu denken wie Sie es tun.
Mit Ihrer zentralen Frage nach den ‘Show-Typen’ kommen Sie auf den Kern des Problems. Die Antwort ist einfach: Nein, fachliche Kompetenz allein reicht für eine Karriere nicht aus. Fachlich gute bis sehr gute Arbeit ist eine selbstverständliche Voraussetzung, mehr nicht. Entscheidend für den Berufserfolg ist die Persönlichkeit.
Dazu gehören zahlreiche Eigenschaften und Fähigkeiten – vom Durchsetzungsvermögen bis zur überzeugenden Präsentation von Anliegen und Ergebnissen. Sie liegen auch hier, mit Ihrer Geringschätzung von Fähigkeiten zur (Selbst)Darstellung, völlig falsch.
Als Lösung wartet auf Sie eine Herkulesaufgabe: Sie müssen, wenn Sie den Erfolg Ihres Traineeprogramms ‘erleben’ wollen, einiges an sich verändern:
- Abstellen Ihrer fachlichen Arroganz, aktives Bemühen um das Erkennen und Fördern der individuellen Fähigkeiten anderer;
- Akzeptieren der in der Praxis für die erfolgreiche Karrieregestaltung geltenden Wertmaßstäbe (der entsprechenden ‘Spielregeln’);
- Erarbeiten einer Doppelstrategie: Welche Art von Karriere will ich, welche kann ich mit meiner Begabung erreichen (Stichwort: Fachlaufbahn), inwieweit kann ich durch Seminare oder Ähnliches meine schwächer ausgeprägten Fähigkeiten noch verbessern?
- Ihre heutigen Wertmaßstäbe sind für jemanden, der über ein Traineeprogramm Karriere machen will, schlicht suboptimal, vorsichtig gesagt.“
Dr. – Ing. e. h. Heiko Mell ist Wirtschaftsingenieur und heute geschäftsführender Gesellschafter der Personalberatung Heiko Mell & Co GmbH in Rösrath. Er hält Vorlesungen und Vorträge über „Spielregeln
für Beruf und Karriere“, hat mehrere Bücher geschrieben und ist seit 1984 Autor der „Karriereberatung“ in den VDI nachrichten.
Fragen zum Berufseinstieg? Die Redaktion von high potential hilft. Bitte die Frage per E-Mail an redaktion@high-potential.com richten und deutlich machen, ob sie auch öffentlich beantwortet werden darf oder nur persönlich.
Stand: Frühjahr 2012