Staubig trockene 40 Grad und Latrinen – auf Kanya Gewalt warteten viele Herausforderungen, als sie sich 2010 entschied, mit Ärzte ohne Grenzen für einige Monate nach Tschad zu gehen, um in einem Gesundheitszentrum zu arbeiten. Dort sammelte sie viele Erfahrungen – positive wie negative – und einige, die sie an ihre persönliche Grenzen führten.
Im Mai 2010 trat ich meine neunmonatige Arbeit mit Ärzte ohne Grenzen mit einer Mischung aus Ungewissheit, Freude und gleichzeitiger Angst vor den Herausforderungen an. Dass es noch einige Wochen mehr als geplant werden sollten, hätte ich mir damals nicht vorstellen können.
Anfangs war für mich nicht nur die Temperaturumstellung von angenehmen deutschen Maitemperaturen auf staubig trockene 40 Grad in Ndjamena, der Landeshauptstadt vom Tschad, eine Herausforderung – auch die Latrinen bedeuteten eine echte Umstellung. In Kerfi im Osten des Landes nahe der Grenze zum Sudan beginnt das Leben im „Busch“.
Ärzte ohne Grenzen betreibt hier seit ein paar Jahren ein kleines Gesundheitszentrum, das den rund 10.000 Einwohnern und noch mal so vielen Vertriebenen in der Region eine kostenlose medizinische Grundversorgung bietet.
Unser Team bestand aus mir und drei weiteren internationalen Mitarbeitern, nämlich der Projektkoordinatorin, einer Krankenschwester und einem Logistiker. Diese waren für mich quasi wie Mitbewohner einer WG, Arbeitskollegen und Familie zugleich. Das Projekt wird vor allem dank der etwa 50 nationalen Mitarbeiter am Laufen gehalten.
Im Eingangsbereich des Gesundheitszentrums befinden sich Wartebänke und ausgebreitete Strohmatten, auf denen jeweils Frauen und Männer getrennt warten, bis sie zur Registrierung aufgerufen werden. Drei Krankenpfleger mit zwei- bis dreijähriger Ausbildung übernehmen Sprechstunden. Es gibt einen Kreißsaal, einen Verbandsraum, ein Überwachungszimmer mit den stationären Patienten und die Station mit schwer mangelernährten Kindern hinter einem Bereich für das ambulante Ernährungsprogramm.
Sofort war klar: Das ist ein völlig andere Welt
Mein Leben dort gestaltete sich ganz anders als in meiner westlichen Heimat. Wir tranken aus Blechtassen – Mikrowelle, Fernseher, Mobilnetz sind dort völlig undenkbar. Oberflächen ohne Sandschichten gibt es nicht. Auf dem täglichen Weg zum Gesundheitszentrum trafen wir hauptsächlich Kinder, von denen fast jedes abgewetzte Kleidung und nur Wenige Schuhe trugen. Frauen in farbenfrohen Gewändern, die einem unterwegs begegnen, balancierten Tabletts mit Verkaufsware oder Wassereimer auf ihren Köpfen. Und wenn man genauer hinsah, war auf ihrem Rücken oft unter einer Schicht Stoff die winzige Silhouette eines Kindes zu sehen, das um die Taille gebunden war.
Besonders schwer war für mich das Erlebnis als ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Kind sterben sah. Für die Antibiotikatherapie war es für das schwer mangelernährte Mädchen mit Durchfall schon zu spät.
Selbst wenn man glaubt, man käme damit zurecht, dass Patienten sterben, so ist es etwas völlig anderes und gemäß unserem Verständnis wider der Natur, wenn es ein Kind ist, das noch ein ganzes Leben vor sich haben könnte. Am gleichen Morgen berichtete der Nachtdienst von der Ankunft einer dreiköpfigen Familie am Abend zuvor, die aus einem entfernten Dorf auf dem Motorrad angereist war. Als die Mutter das Kind aus dem Tuch hob, das um ihren Rücken gebunden war, kam jede Hilfe zu spät. Das Kind war bereits unterwegs gestorben.
An dem Tag fiel es mir schwer, den winkenden Kindern ein unbeschwertes Lächeln zu entgegnen. So wurde ich als Mensch wie auch als Ärztin in diese mir fremde Welt hineingeworfen.
Die ersten Monate bedeuteten für mich vor allem eine Lernzeit, bevor ich mich wirklich richtig in das Projekt einbringen konnte. In der Folgezeit veränderte sich dann sehr viel. Ich begann „problemorientiert“ zu arbeiten. Wann immer es die Zeit zuließ, trommelte ich das nationale Team für kleine Fortbildungseinheiten zusammen. So verbesserten wir beispielsweise mit denjenigen, die für die Registrierung der Patienten zuständig waren die Triage, oder sprachen mit den Krankenpflegern und Schwestern, wenn sich bei der Medikamenteninventur zeigte, dass zu viele Antibiotika verschrieben worden waren.
Mittels stichprobenartiger Patientenumfragen versuchten wir eine vereinfachte „Qualitätssicherung“ zu machen. Immerhin haben uns im letzten Jahr allein in der allgemeinen Sprechstunde über 26.000 Patienten besucht.
Hinzu kamen andere Schwierigkeiten. Nach einer Überschwemmungskatastrophe setzte sich der Logistiker Martijn für den Latrinenbau für die Bevölkerung ein. Das Problem des Mangels an Nahrungsmitteln in dieser Zeit veranlasste unsere Projektkoordinatorin, durch Lobbying andere Organisationen auf den dringenden Bedarf aufmerksam zu machen.
Besonders schön ist es, wenn unsere Arbeit durch Erfolge belohnt wird. So ist die Geburtenrate zu meiner Freude um ein Vielfaches gestiegen und gemeinsam im Team von Pflegekräften konnten wir mit der ersehnten internationalen Materiallieferung einige Umstrukturierungen vornehmen. Damit waren dann zum Beispiel auch Bluttransfusionen möglich. Ein siebenjähriges Mädchen kam völlig geschwächt und fast bewusstlos mit erheblicher Blutarmut infolge einer Malariaerkrankung zu uns. Ohne Transfusion hätte sie den nächsten Tag vielleicht nicht überlebt. Heute kann sie wieder lächeln.
Die Kinderstation bekam einen bunten Anstrich. Dann war da noch das Frühgeborene, das völlig geschwächt mit seinen Eltern aus 15 Kilometern Entfernung zu uns gekommen war. Auf wundersame Weise hat dieses 1.600 Gramm wiegende Kind, das in Deutschland in einem Perinatalzentrum im Inkubator liegen würde, überlebt. Nachdem es über eine Magensonde aufgepäppelt wurde, nahm es zu.
An dem Abend als ich eigentlich nach Deutschland zurückfliegen sollte, lernte ich, was „Flexibilität“ bei Ärzte ohne Grenzen bedeutet. Ich genoss am Esstisch meine Mahlzeit als eine Diskussion zwischen dem Logistik- und Medizinerteam entbrannte, wie denn nun die anstehende Impfkampagne bei der akuten Meningitisepidemie geplant werden sollte. Es fehlte an Personal und Zeit. Plötzlich fielen die Blicke auf mich und der Logistikkoordinator sprach es aus: „Aber du kannst doch bleiben!“ Mir blieb fast das Essen im Hals stecken. Aber die Ausrede, ich hätte etwas besseres zu tun, wäre lächerlich gewesen.
Also blieb ich. Mit neu zusammengestellten Teams zogen wir durch Zentraltschad, um fast 40.000 Menschen innerhalb von zwei Wochen zu impfen. Das war zusammenfassend ausgedrückt eine absolut andere Erfahrung, die ganz schön an die Substanz gegangen ist. Als ich im Anschluss daran wieder mit der Aussicht auf Rückkehr nach Hause im etwas zivilisierteren Ndjamena ankomme, begegnen mir sogar hier in der Landeshauptstadt alle Zeichen der Unterentwicklung: UN-Fahrzeuge und unzählige Landcruiser mit Logos verschiedenster Hilfsorganisationen, die dort ihr Hauptbüro haben. Betrachtet man das kaum entwickelte Land ohne nennenswerte Industrie in seiner ganzen Dimension, so ist das Projekt in Kerfi oder die Impfkampagne „nur” ein winziger Tropfen auf den heißen Wüstensand.
Solange es Personal und die Zulieferung von Medikamenten und Materialien gibt, profitieren die Menschen von der lebenswichtigen Gesundheitsversorgung. Wenn das Projekt eines Tages schließt, bleibt zu hoffen, dass das hiesige Gesundheitsministerium Mittel und Personal aufrechterhalten kann. Doch wahrscheinlich wird die Bevölkerung noch lange auf internationale Hilfe angewiesen sein.
Neben dem medizinischen Alltag voller unterschiedlicher Schicksale, hinterlässt diese andere Seite der Limitationen und Realitäten einen bitteren Nachgeschmack.
Für mich waren die zehn Monate eine lange Zeit, die ich zuweilen am liebsten vorgespult hätte. Gerne wäre ich zwischendurch in einen Supermarkt gegangen und hätte Schokolade gekauft. Aber wenn ich an die Kinder auf der Straße denke, die mir lachend zuwinken oder mich an die motivierten Gesichter der nationalen Mitarbeiter bei der Visite erinnere, würde ich auch die leckerste Schokolade dafür eintauschen, um einen kleinen oder großen Unterschied im Leben vieler Menschen mit all ihren Einzelschicksalen gemacht zu haben.